Spiel mir das Lied vom Proleten

Gegenöffentlichkeit in der Diskurs-Disco

"Die Massengesellschaft zeigt den Sieg der Gesellschaft
überhaupt an; sie ist das Stadium, in dem es außerhalb der
Gesellschaft stehende Gruppen schlechterdings nicht gibt."

(Hannah Arendt)

Eine funktional ausdifferenzierte Gesellschaft entzieht sich holistischen Gesellschaftskonzepten und somit einem allgemein verbindlichen Begriff von Öffentlichkeit. Öffentlichkeit ist ein System, das nicht mehr durch seine Teile bzw. Subjekte, sondern durch seine Handlungen wie Kapitalflüsse und Markttrends definiert wird. Die Fabrikation von Öffentlichkeit als Projekt der bürgerlichen Gesellschaft sowie die Produktion von Gegenöffentlichkeit als Projekt der kritischen Linken stellen nach der Transformation von Staat und Ökonomie durch die kapitalistische Mediatisierung von Gesellschaft kein antagonistisch-dikursives Prinzip dar, sondern stehen gemeinsam an den Turntables des Konsums. [...] Die Produktion von Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit ist ein raffiniertes Sampling, das nach einer spezifischen Stimulation und Separation von Teilöffentlichkeiten verlangt, d.h. sie ist davon abhängig welche "Platte" gerade über den öffentlichen Äther geht, wer sie mischt und moderiert, in welchem Kontext sie steht etc. Öffentlichkeit reduziert sich somit auf Sendeplätze zur Generierung von Aufmerksamkeit und Gegenöffentlichkeit auf eine Störung dieser Aufmerksamkeit im Sinne der Kommunikationsguerilla. [...] Sennett, Habermas oder Kluge/Negt diagnostizierten auf unterschiedliche Weise in den 60er/70er Jahren den Zerfall bürgerlicher Öffentlichkeit, konstatierten eine Vergesellschaftung des Staates und eine Verstaatlichung der Gesellschaft und forderten einen kritischen Imperativ in bezug auf die einzelnen Produktionsinteressen der Massen. Und diese Verstaatlichung/Ökonomisierung der Gesellschaft war in den Aufmärschen des Jahres 68 - wo der Begriff Gegenöffentlichkeit gefordert und praktiziert wurde - auch Anlaß für die Forderung nach mehr politischer Freiheit und Mitbestimmung und der Rekonstituierung des Ideals einer kritisch-diskursiven Zivilgesellschaft. [...] Dieses Ideal einer redemokratisierten Polis erschien konsequenterweise nur über eine Kritik der Medien und eine Arbeit mit und in diesen - vor allem den elektronischen Medien - realisierbar zu sein: Chomsky kritisierte die Hegemonie von Politik und Medien, Fuller prangerte die Großkonzerne an, McLuhan träumte von einer "Extension of Man", Burroughs propagierte seine "Electronic Revolution" usw. Die Idee einer medialen Aufklärung und der damit verbundenen Installierung von Gegenöffentlichkeiten kam aber bald ins Stocken, da mit Luhmann gesprochen Öffentlichkeit und Gesellschaft ein selbstreferentielles System sind, das die Reduktion von Umweltkomplexität voraussetzt. Insofern sind wir als Empfänger, die gerne Gegensender wären, immer einem polaren Kräftefeld ausgesetzt, das sich zwischen der konnektivistischen Struktur des aus Lifestyle- und Bewußtseinsindustrie gespeisten kollektiven Gedächtnisses und der aus Kontingenzphänomenen erwachsenen Atomisierung von Sinneinheiten auflädt. [...] Daraus und aus dem Scheitern der 68er-Bewegung resultierte in den 80er und 90er Jahren die Auffassung, daß sich Gegenöffentlichkeit nur im Privaten manifestieren und als Haltung des Widerstandes nur dort authentisch praktizieren läßt. Die Hoffnung, daß einzelne autonome Zellen, die aufgrund ihrer Unabhängigkeit in der Lage sind mit anderen Zellen dislokative Netze zu bilden, eine kritische Gegenöffentlichkeit formulieren und Aktionen setzen können, relativiert sich allerdings rasch am Beispiel von Geheimbünden, Sekten oder Konzernen, für die derartige subversive Gegenstrategien seit jeher die soziale Basistechnologie ihres Erfolges darstellen. [...] Das Problem bei der Politisierung des Privaten als subversives Prinzip besteht in der Schaffung euphemistisch-geheimer Ordnungen und Monopole. Da öffentlich und privat sich in einer mediatisierten Gesellschaft nicht oppositionell (civil society), sondern antagonistisch gegenüberstehen, könnte man derzeit sogar in bezug auf die Pole Öffentlichkeit und Privatheit - da Fragen des öffentlichen, aber vor allem auch Belange des privaten Raumes (der eigene Körper, die eigenen vier Wände, Meinungen, Kritiken, Utopien und Lebensauffassungen) sich zunehmend als mediale Konstrukte und konsumistische Surrogate erweisen - von einem Polsprung sprechen, der eine Privatisierung des Öffentlichen und eine Veröffentlichung des Privaten zur Folge hat. Der öffentliche Raum wird privatisiert, indem er 1. ökonomisch hierarchisiert wird und ein neoliberales Kastensystem des Kapitals entsteht, indem 2. Informationen, Begriffe oder ganze Stadtteile nicht mehr kommunales Gut, sondern privatisierte Teilöffentlichkeit darstellen (vgl. Corporate Cities, Intranetze im Internet, Genpatente) und indem 3. private Themen den öffentlich medialen Diskurs annektieren (vgl. Lady Di, Monica Lewinsky). [...] Für künstlerisches Handeln resultiert daraus die Konsequenz, daß der durch die elektronisch-telematische Revolution ausgelöste Strukturwandel der Öffentlichkeit nicht mehr mit Aufklärung und historisch-transzendentaler Idealisierung verknüpft werden kann. Öffentlichkeit hat sich in einen pluralistischen, heterotopen Diskurs gewandelt, wobei Öffentlichkeit im traditionellen Sinn der Agora bzw. als allgemeines Diskursforum nur mehr als minimale Übereinkunft funktioniert. Übereinkunft bzw. Kompatibilität bedeuten hier vor allem Markt, in dem sich Politik immer weniger als soziales Korrektiv, als vielmehr als Ware zu definieren beginnt. Symptome dieser Kulturpolitik lassen sich als politmarktorientierte Konsensprodukte beschreiben, die von harmlosen Hundertwasserbauten bis zu erschreckenden Aussagen des Innsbrucker Bürgermeisters Herwig van Staa reichen, der in bezug auf eine innerstädtische Baulücke (Adambräugelände) die Aussage und Entscheidung trifft, daß bevor Ausländer hier eine Moschee erbauen und mitten in der Stadt Balkanverhältnisse einziehen, die Stadt Innsbruck lieber ein Museum oder Räumlichkeiten für andere kulturelle Aktivitäten errichtet. [...] In diesem Sinn wären alle Kultur-DJs als letzte Proleten in unserer westlich-postindustriellen Gesellschaft aufgerufen - trotz schlechter Marktchancen und mangelnder Nachfrage - öfter und lauter die alte Platte der Gegenöffentlichkeit zu spielen.

Thomas Feuerstein, Gegenöffentlichkeit/Kommentar. In: Wolfgang Zinggl (Hg.), Spielregeln der Kunst, Amsterdam/Dresden 2001

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