Ulrike Mair
Biophily Logbuch

23. 01. 1995
Mbeya/Tansania - Nkhata Bay/Malawi
Von Mbeya kommend queren wir die Grenze zu Malawi. Die Zöllner strapazieren mehrere Stunden unsere Geduld, aber wir bleiben standhaft und leisten der Korruption keinen Vorschub. Immer wieder müssen wir Dörfer umfahren, die wegen der Cholera unter Quarantäne stehen. Wir fahren entlang des Sees Richtung Blantyre. Die Landschaft ist traumhaft schön und der See kristallklar. Obgleich wir nur wenige Dörfer durchfahren, wimmelt die Landstraße von Menschen, vor allem von Kindern. Eine endlose Karawane scheint sich durch Afrika zu wälzen und einen ganzen Kontinent zu mobilisieren. Wer die Realität der 90er Jahre in ihrer ambivalenten Komplexität "kosten" möchte, sollte sich den Alltag der afrikanischen Landbevölkerung ansehen und die Heterogenität von westlicher Zivilisation, Postkolonialismus, Natur und afrikanischer Tradition als Syndrom für unsere Globalkultur zu begreifen versuchen. Entlang der Fernfahrer-Routen und den Grenzorten, wo die illegale Prostitution floriert, ist die Bevölkerung bis zu 50% HIV positiv. Auf den Märkten werden wie in Tansania Kleider aus der Caritas-Sammlung zu überhöhten Preisen verhökert. C&A-Hemden, die sich in Europa nicht verkaufen lassen, gehen als Haute Couture über den Ladentisch. Wer die Produktionsbedingungen und die heuchlerisch-christliche Moral des C&A-Konzerns kennt, dem dreht sich der Magen um. Entwicklungshilfe verkehrt sich hier in ihr Gegenteil und wird zum schnellen Geschäft für Trittbrettfahrer. In Asien billig produziert, in Europa getragen und in Afrika gewinnbringend entsorgt. Die oft unterstellte Formel, dass afrikanische Länder das Beste an Bodenschätzen und Agrargütern geben und im Gegengeschäft Müll und Industrieschrott bekommen, bestätigt sich allerorten. [...]

26. 01. 1995
Cape Maclear/Malawi
Thomas spricht seit drei Tagen nur mehr das Notwendigste und ernährt sich ausschließlich von Bananen, Reis und Milch. Seine Kieferknochen sind von Viren befallen, die Kauen, Sprechen und jede Gesichtsmimik verunmöglichen. Er sieht völlig bescheuert aus und meint nur, dass er bald wieder in Ordnung sei. Das andauernde Gerede vom Biophily Forest Reserve und die unbeschreibliche Biodiversität darin hat sich offenbar in seinem Mund niedergeschlagen. Ob seine Vision ein Stück Regenwald in den tansanischen Usambara Bergen vor der Rodung zu bewahren und mit Bauern vor Ort ökologisch mit Nischenprodukten zu bewirtschaften jemals sich realisieren lässt, steht ohnehin in den Sternen. Seine betriebswirtschaftlich dilettantischen Kalkulationen werden ihm jedenfalls kaum weiterhelfen und seine utopischen Zeichnungen mit biosphärischen Kugeln, Baumskulpturen und Laborarchitekturen ärgern mich, weil sie an einen Künstlerkolonialismus erinnern, der wohl hoffentlich mit der idiotischen Land Art gestorben ist. Um seine Krankheit zu kurieren, ruhen wir uns einige Tage an den Ufern des Sees in Cape Maclear aus. Das Antibiotika hat ihm zudem die Darmflora ruiniert, wodurch er für jede Kleinigkeit anfällig ist und sich ständig übergibt. Obwohl er trotz Medikamente die meiste Zeit apathisch im Zelt liegt, überkommt ihn einmal am Tag für eine gute Stunde ein Energieschub und er zwingt uns mit ihm auf eine nahegelegene Insel zum Tauchen zu fahren. Dort begeistert er sich mit Markus an den hunderten Arten von Cichliden, die sich angeblich ausgehend von einer einzigen Barschart endemisch entwickelt haben. [...]
Die Einheimischen sind überaus herzlich und mit Maxwell und dem kleinen Anton hat sich eine freundschaftliche Bindung entwickelt. Anton ist ein intelligenter Junge, der perfekt Englisch spricht. Er hat mich sogar seiner Familie vorgestellt. Die Hütte in der er wohnt, könnte einem Werbefilm zum Spendenaufruf für Entwicklungshilfe entsprungen sein: ein Strohdach, fensterlose Wände aus Lehmziegeln, fünf Matten auf 10 Qudratmetern, auf denen er und seine Geschwister schlafen und ein Kalenderbild mit Alpenblick. Zum Essen gibst Trockenfisch und Mais. Schnell wird klar, dass Malawi zu den fünf ärmsten Ländern zählt. Bis Anfang der 60er Jahre von den Briten verwaltet und anschließend vom Banda-Clan abgewirtschaftet, wurde Malawi jahrzehntelang abgezockt. Soziales Netz gibt es keines und der Zugang zu Bildung ist den Reichen vorbehalten. Die Schule in Mangochi kostet 900 Kwacha im Jahr. Morgen werde ich dort mit Anton den Lehrer besuchen und das Geld für die Grundschule vorstrecken. [...]

13. 02. 1995
Khorixas — Skeleton-Coast/Namibia
Nach dem Frühstück fahren wir in Richtung Wooden Forest versteinertes Holz besichtigen. Mich verwirrt der Gedanke an versteinertes Holz. Ganze Baumstämme haben ihre materielle Konsistenz gewechselt. Auch die ersten Welwitschias sehen wir hier. Dann weiter ins Damaraland. Es ist beeindruckend. Hügelige Landschaften, unendliche Geröll- und Felsformationen, im Hintergrund Berge. Hier hat man das Gefühl, die Zeit sei stehengeblieben. Riesige Gesteins- und Erdverschiebungen sind sichtbar — die Gewaltigkeit der Erdentstehung, Jahrmillionen, all das lässt sich hier erahnen. Keine Menschen und fast keine Vegetation mehr. […] Den ganzen Tag fahren wir durch ständig sich verändernde Landschaften immer weiter hinein in die Kargheit der Wüste. Dass es hier irgendwann einmal fruchtbar war, daran erinnern Felszeichnungen von Elefanten, Löwen, Hippos und Giraffen. Heute weiß niemand mehr, wann Menschen diese einfachen Bilder in den Fels eingeritzt haben. Die Skeleton-Coast gehört zum Schönsten, was ich je in meinem Leben gesehen habe. Viele verschiedene Formen von Wüste. Über die Straße wandernde Sanddünen, Landschaften wie von anderen Planeten, bis hin zum Horizont je nach Sonnenstand und Reflexion durch das Meer in anderes Licht getaucht, von silbrigem Weiß bis zu allen Schattierungen von Gold. Mit Worten lässt sich die Vielfalt dieser Kargheit nicht ausdrücken. […] Wir sehen den Atlantik. Jetzt haben wir den Kontinent durchquert. In Raskutani in Tansania haben wir noch im Pazifik gebadet. Thomas und ich stechen Muscheln fürs Abendessen. Es ist mein 33. Geburtstag. […] In der gewaltigen Brandung des Ozeans fluoresziert das Plankton und die Schaumkronen der riesigen Wellenbrecher erscheinen in leuchtendem Grün. Ich beginne zu verstehen, warum die Stämme hier die Natur als Götter verehren. Hier braucht man keinen Gott zu erfinden.

14. 02. 1995
Skeleton-Coast — Swakopmund
Entlang der Küste fahren wir in Richtung Swapokmund. Meilenweit Strand, nur mit dem Unterschied, dass hier der Sandstrand Wüste ist und auch zum Landesinneren hin bis zum Horizont reicht. Wir fahren lange, ohne einen einzigen Menschen zu sehen. Am Nachmittag erreichen wir Swakopmund. Der Ort erinnert an ein verschlafenes Nest in Deutschland. Deutsche Ladenaufschriften, deutscher Kuchen, deutscher Kaffee, deutsche Buchhandlung. Kolonialismus und so etwas wie ein Wildwest-Feeling. […] Dann das Antiquariat von Peter Haller. Der Laden ist zweigeteilt. Eine Seite gehört den weißen Siedlern. Hier finden sich alte Tropenhelme, Silberbesteck, alte Schallplatten, Uhren, Füllhalter sogar Ikonen. Kostbarkeiten, die die weißen Siedler einst hierher mitgebracht haben und die sie an ihre Heimat erinnern. Ein Flair von Großwildsafari, Abenteuer und Entdeckertum schwebt über all diesen Dingen. Der andere Teil des Ladens, Kult- und Gebrauchsgegenstände des alltäglichen Lebens von afrikanischen Stämmen, erzählt eher die Geschichte eines Untergangs. Peter Haller hat all diese Gegenstände über Mittelsmänner für sein Geschäft aufgetrieben und seinen stolzen Worten nach meist nur um eine Flasche Cola oder einen billigen Transistorradio eingetauscht. Alles von diesen vielen tausend Gegenständen hat irgendeinen unmittelbaren Sinn im Ablauf des Tages, des Jahres oder des gemeinschaftlichen Lebens erfüllt. Jedes einzelne Stück erzählt ein Stück Lebensgeschichte eines Menschen, einer Familie, eines Stammes, einer Sippe, die es in ihrer Ursprünglichkeit hier heute längst nicht mehr gibt: Ahnenfiguren und Muschelgeld der Ovambos oder Halsreifen der Himbafrauen. […] Zwischen den beiden Geschäftsteilen gibt es auch ein Buchantiquariat mit haarsträubender deutschsüdwestafrikanischer und deutscher Literatur. Viele Nazis sollen sich nach dem Zweiten Weltkrieg hier her geflüchtet haben, wovon der Fundus an nicht gerade politisch korrekten Büchern eindrucksvoll erzählt.

15. 02. 1995
Swakopmund — Windhuk
Am Morgen segeln nur wenige Meter über unseren Köpfen riesige Albatrosse über uns hinweg. Unmittelbar hinter dem Ortsschild von Swapokmund beginnt die Wüste. Wir fahren die so genannte Welwitschia-Route, wo man neben einer grandiosen Aussicht auf das Swakoptal auch die angeblich älteste und größte Welwitschia sehen kann. Sie soll über 2000 Jahre alt sein. Auch hier begegnen wir wieder lange keinem Menschen. Bei der besonderen Welwitschia machen wir Halt. Plötzlich fährt ein Auto vor und ein paar Leute zischen an uns vorbei. Der Altösterreicher Friedrich Welwitsch hatte nicht schlecht gestaunt und geglaubt, einer Halluzination zum Opfer gefallen zu sein, als er 1859 die erste Welwitschia in der Wüste entdeckte, die seitdem auch nach ihm benannt ist. Wir allerdings staunen auch nicht schlecht, als wir die Leute von der alten Welwitschia wieder zurückkommen sehen. Es ist Jörg Haider mit seiner Familie, seiner Frau, den beiden Kindern und einem befreundeten Ehepaar, das hier eine Farm mit Großwildjagd besitzt. Haider beginnt gleich über den Kauf von Farmland zu plaudern, und dass es jetzt in Österreich nach dem EU-Beitritt auch leicht sein werde, Land oder einen Bauernhof zu kaufen. Dann lässt er noch ein paar flotte Sprüche über sich und die Koalitionsparteien los, die ihn immer schon in die Wüste geschickt haben wollten, und jetzt sei er eben da. Dann fahren sie wieder ab.
Nachdem wir betreten unsere Thunfischdosen ausgegabelt hatten und wortlos in Ermangelung eines Einfalls, der der Situation gerecht werden hätte können wieder ins Auto steigen, fahren wir diskutierend zurück zur Hauptstraße. Am Weg nach Windhuk schneidet uns ein reißender Fluss den Weg ab, der sich nach einem heftigen Wolkenbruch gebildet hatte. Wir übernachten bei weißen Farmern, die uns stolz ihr Waffenarsenal deutscher Bauart aus dem Zweiten Weltkrieg präsentieren. Während die Farmersfrau einen köstlichen Gemsbockbraten für uns kocht, müssen wir zum Einstand auf Dosen schießen, was uns sogar noch Spaß bereitet. Die Schwarzen, die wie Leibeigene in rostigen Blechhütten ihr Dasein fristen, schauen uns mit traurigen Blicken zu. […] Erst Tage später erfahren wir in Windhuk, dass Haider in Namibia Vorträge hielt, in denen er unter anderem die Souveränität der weißen Rasse beschwor und am Beispiel Deutschsüdwestafrika exemplifizierte, dass es der Deutsche überall schaffe und er selbst eine karge Wüstenlandschaft zu wirtschaftlicher Prosperität erblühen lassen kann — zumindest für die Weißen.

12. 12. 1996
Kovalam/Kerala
Jetzt sind wir schon den fünften Tage in Bindus Haus. Nach der hektischen Zeit in Bombay tut die Ruhe auf dem Land gut. Wir sind umgeben von den für Kerala typischen Kokoshainen, die nach den intensiven Regengüssen in der tropischen Schwüle wild dampfen. Die extreme Luftfeuchtigkeit kondensiert zu winzigen Wassertropfen, was die Einheimischen "Snow" nennen. Mir ist das recht, der Regen und die Schwüle zwingen den Körper zur absoluten Lethargie, Erholung pur. Bindus Ajuveda-Kur erledigt den Rest. Thomas indessen steht irgendwie unter Stress. Er hat seine abstruse Idee einen Gummibaum zu heiraten noch nicht verworfen. Er will arbeiten, schreiben, aber die große Feuchtigkeit lässt jedes Papier aufquellen. Es ist nichts zu machen. Zu guter Letzt schimmeln auch noch all seine Sachen. […]

15. 12. 1996
Trivandrum/Kerala
Obwohl es Nicht-Hindus normalerweise verboten ist, hat es Bindu irgendwie geschafft, dass wir den Haupttempel in Trivandrum besuchen dürfen. Sie weist uns an, uns feierlich anzuziehen, ich werde in einer umständlichen Prozedur geschminkt. Im überfüllten Bus fahren wir in halsbrecherischer Geschwindigkeit über die holprigen Straßen. Dass hier in Kerala laut Reiseführer mehr Menschen an herabfallenden Kokosnüssen sterben als im Straßenverkehr, ist schwer zu glauben. […]
Für das letzte Stück in Trivandrum nehmen wir eine Motor-Rikscha. Bindu ist nun völlig in heiliger Vorbereitung versunken und weist uns in stillen Gesten an, was zu tun ist. Zuerst müssen wir im Tempelvorhof Opfergaben kaufen. Verschiedenfarbige Blütenketten, Räucherstäbchen, seltsame in Kokosblättern verpackte Pakete mit rätselhaftem Inhalt, kleine Metallblättchen, symbolische Nachbildungen von menschlichen Organen, kostbare Farbpulver, verschiedenartige Kekse und Süßigkeiten. Im Vergleich zu dem, was die Menschen hier verdienen, geben wir ein Vermögen aus.
Im Tempelvorhof herrscht hektisches Treiben. Tempeldiener schleppen unentwegt Palmenblätter an, fädeln Blütenketten, falten jene seltsamen Pakete. In einem anderen Bereich werden gerade etwa fünf Meter hohe Ganesha-Figuren aus einer Art Pappmasche bemalt, für die sich Thomas sofort interessiert. Zum Glück sind sie viel zu groß und zum Verschiffen viel zu sperrig, sonst hätte er vermutlich sofort eine in Auftrag gegeben und wahrscheinlich noch zusätzlich einige Technogötter selbst entworfen. […]
Beladen mit drei großen Nylontaschen treten wir schließlich in den Tempelbezirk ein. Bindu schleppt uns von Altar zu Altar, rückt uns in die richtige Position, drückt uns die passenden Opfergaben aus den Tragtaschen in die Hand, die uns in nächster Sekunde von Tempeldienern wieder aus der Hand gerissen werden. Alles landet zu Füßen eines dem jeweiligen Altar zugehörigen heiligen Priesters, der eingenebelt von verschiedenen Räucherwaren teilnahmslos auf dem Altar sitzt. […]
Hinter dem Tempel beginnt ein schmaler Fußpfad durch ein Maisfeld, der über einen verwilderten Acker mit vereinzelten Bananenstauden in einen Hain führt. Es ist der Weg zum Avatar, dem heiligsten Mann im Bezirk, den man nur bei besonderen Anliegen konsultiert. Nach einer halben Stunde erreichen wir ein kleines mit Palmblättern gedecktes bescheidenes Haus. Bindu stärkt uns mit heiligen Keksen, flüstert nur mehr und wirkt aufgeregt. Jetzt ist absolute Heiligkeit angesagt. Sie geht zur Hütte vor und winkt uns nach kurzer Zeit nachzukommen. Ein alter Mann mit kurzgeschorenen Haaren ruht in einem Lehnsessel und bietet uns freundlich Platz auf einem Sofa an. Bindu sitzt näher bei ihm und erzählt ihm von Biophily und dem Grund unseres Hierseins. Der Avatar verzieht keine Miene und bewegt seinen Kopf gleichförmig in der typisch zustimmenden Geste einer Achterschleife. Entweder hat Bindu dem Mann eine völlig andere Geschichte erzählt oder das Projekt, westliche Technokultur über hinduistische Mythologien und Traditionen ironisch-kritisch zu recherchieren war ihm auf Anhieb verständlich. Er spricht kein Wort Englisch, heiligt aber in einem kurzen Ritual eine Zitrone und zwei kleine Häufchen Farbpigmentpulver, die uns Bindu später auf die Stirn streicht. Zum Abschied segnet er uns und Bindu steckt ihm ein beträchtliches Bündel Rupien zu. Dann verlassen wir den Ort. Am Abend träufelt Bindu Thomas und mir in konzentrierter Ernsthaftigkeit und mit heiliger Inbrunst je eine Hälfte der heiligen Zitrone in den Mund.

24. 12. 1996
Bombay
Dass wir Badri gleich in den ersten Tagen hier in Bombay kennengelernt haben, war die Rettung. Er hat die Malertruppe zusammengestellt, Leinwände und Farben eingekauft und das Atelier organisiert. Eigentlich wollten wir heute mit ihm und seiner Freundin Rhita Weihnachten auf dem Boot verbringen. Irgendwie wollten die Telefone aber nicht. Stattdessen spazieren wir im Fischerhafen herum, wo die Härte des Alltags alle westlichen Klischees über die Armut Indiens in den Schatten stellt. Die Menschen schuften hier wie Sklaven. Und das bei einem bestialischen Gestank von verfaultem Fisch. Aber sie haben im Gegensatz zu anderen wenigstens Arbeit. Mir wird übel. Gerade jetzt ist wieder einmal der Moment erreicht wo Indien dabei ist mich zu töten. "Indien tötet dich oder es erlöst dich" habe ich einmal irgendwo gelesen. Indien wirkt andauernd wie ein Bombardement auf die Sinne. Spiritualität und Scharlatanerie, Wohlgerüche von edlen Hölzern, Ölen, kostbarem "burning items" und bestialischer Gestank, Gold und Dreck, die Schönheit der indischen Frauen, die unerschöpfliche Farbenvielfalt ihrer bunten Saris und die schrecklichsten Auswüchse von Krankheit und Gebrechen, all das wirkt ununterbrochen, immer gleichzeitig, hier und jetzt in einer derart unmittelbaren Art Weise auf einen ein, dass man sich nicht entziehen kann. Ganz zu schweigen von dem kasten-, glaubens- herkunfts- und sprachbedingtem Wirrwarr aus gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Zusammenhängen, das sich dem westlichen Betrachter bestenfalls als unentschlüsselbares labyrinthisches Geflecht erschließt.
Auf dem Weg Richtung Gateway of India umringt uns wieder einmal eine Schar bettelnder Kinder. Die meisten wurden von ihren Eltern verstümmelt. Als Zeichen, dass sie arbeitsunfähig und als Angehörige der untersten Kaste zum Betteln legitimiert sind, halten sie uns ihre Fingerstumpen entgegen. Gerade heute am Weihnachtsabend macht uns dieses furchtbare Elend besonders betroffen. Wir stecken den Kindern Kugelschreiber und Süßigkeiten zu und diskutieren wieder einmal, wie ohnmächtig wir uns dieser Misere gegenüber sehen. […]
Den Weihnachtsabend wollen wir in einer schicken Hotelbar verbringen und einfach ein bisschen feiern. Auch hier wieder diese Gegensätzlichkeit. Während wir bis spät in die Nacht noble Cocktails schlürfen, machen sich tausende Menschen auf den Straßen und in den Hinterhöfen bereit für ihre Nachtruhe. Immer wieder das selbe beschämende Szenario. Wenn wir uns am Abend auf den Weg ins Hotel machen, müssen wir vorbei an unzähligen schlafenden Menschen. Sie kauern meist in Gruppen zusammen, darunter Kinder, als Unterlage meist nur eine Decke oder ein Karton am Boden. Dazwischen suchen streunende Hunde und Ratten nach Essensresten der ohnehin so kärglichen Mahlzeiten. Was zahlende Gäste auf ihren Tellern übrig lassen, wird von den Restaurants als "second hand food" an ärmere Leute weitergegeben. Von den Krümeln leben dann noch die Tiere. Um uns die Ratten vom Leib zu halten, haben wir uns mit Keksen bewaffnet. Einer in die Ecke geworfen und blitzartig ist der gesamte Boden schwarz. Dutzende von Ratten raufen sich darum. Gottseidank wohnen wir im sechsten Stock. Das macht uns zwar einigermaßen sicher vor Ratten, erweist sich aber als fast unüberwindbares Hindernis. Im Lift schlafen mindestens fünf Personen am Boden. Über das Treppenhaus hinaufzugehen ist noch unmöglicher. Auf den Treppen und vor allem in den Zwischenstöcken, wo Geschäfte, Büros und Arztpraxen untergebracht sind, schlafen dichtgedrängt jene Menschen die tagsüber hier arbeiten. Und das ist ein Privileg, wie man uns versichert. Angesichts dieses kollektiven Campings kommt uns die weihnachtliche Geschichte von der Herbergsuche direkt lächerlich vor.

26. 12. 1996
Bombay

[…] Am Abend gegen acht schauen wir noch bei den Malern vorbei, die im Norden der Stadt ihre Werkstätte haben. Bei dem Verkehrsoverkill jedesmal eine halbe Weltreise. Vorbei an wunderschön beleuchteten Palästen und Hindutempeln, hell erstrahlten Weddingplaces, prächtigen internationalen Hotels, durch dunkle Elendsviertel und gottvergessene heruntergekommene Slums, hupend durch hektische Marktplätze; vorbei an herumirrenden heiligen Kühen, Kulis mit fast unbewältigbaren Lasten, Tausenden von Frauen, die am Straßenrand auf einem kärglichen Feuer für ihre Familien das Abendessen bereiten. Ein sich ständig änderndes phaszinierendes kunterbuntes Chaos und Durcheinander. Das Taxi touchiert zweimal mit anderen Autos, dass es uns einen halben Meter seitwärts rempelt, später streifen wir in voller Fahrt eine Frau, die über die Fahrbahn eilt. Thomas schreit mit dem Fahrer, doch der meint nur "too many people(s), India is totally overcrowded". […]
Die Bilder sind schon fast fertig und die Maler freuen sich, uns wiederzusehen. Ihre ursprüngliche Abscheu, das Bild "humane nature" — eine Intensivstation als Methapher für eine "vermenschlichte Natur" — zu malen, hat sich in der Zwischenzeit überraschend gelegt. Anfangs wollten sie dieses Bild überhaupt nicht malen, wahrscheinlich haben sie mit Krankenhaus bzw. Krankheit ein schlechtes Karma assoziiert. Jetzt kurz vor seiner Fertigstellung haben sie beinahe eine innige Beziehung zu dem Bild entwickelt. […]

Thomas Feuerstein
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Ulrike Mair
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G. J. Lischka
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Rainer Fuchs
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Margarete Jahrmann
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Maia Damianovic
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