Helmut Willke

Atopia als Plus ultra der territorialstaatlichen Selbsteinkreisung*

Utopia des Marktes

Die Utopie des reinen Marktes ist hintergründiger und moderner, amoralischer und grenzenloser als jede bisherige Utopie. Getragen ist sie nicht von revolutionären Phantasten, sondern von etablierten Institutionen. Es ist die Utopie von Weltbank und Internationalem Währungsfond, von GATT und WTO, von The Wall Street Journal und Heritage Foundation, von transnationalen Konzernen und global agierenden Investitionsfonds. Es ist die Utopie des reinen Marktes. Adam Smiths unsichtbare Hand erstarkt zum Hebelarm einer globalen Transformation, die den Wohlstand der Nationen und die Wohlfahrt der Shareholder zur globalen Glückseligkeit („pursuit of happiness“) steigert, in welcher die Grenzen zwischen Ländern und Regionen bedeutungslos werden und die Grenzen zwischen arm und reich nur noch davon abhängen, wie bedingungslos sich Firmen und Standorte auf die Regeln des reinen Marktes einlassen.

Die überragende Stärke der Utopie des reinen Marktes erschließt sich erst, wenn man sie nicht nur als Modell, sondern tatsächlich als Utopie begreift, und wenn man sieht, dass sie im Unterschied zu allen anderen Utopien auf eine Beeinflussung des Menschen verzichten kann. An dem eigensinnigen Widerstand der Menschen gegen eine Veränderung ihrer Natur zum Guten und Grandiosen scheiterten alle Utopien bislang. Die Marktutopie dagegen braucht sich um den Menschen nicht zu kümmern. Ihr ausschließliches Interesse gilt der Institution und ihren Regeln. Sind diese in Operation, dann folgt der Mensch. Keine Mobilisierung, keine Erziehungsprogramme, keine Aufmärsche, kein Agitprop. So wie seit Jahrhunderten Menschen in Schulen und Universitäten, Krankenhäuser und Kirchen, Gerichtsorganisationen und Anwaltskanzleien eintreten und sich entgegen ihren Vorstellungen und Träumen nach deren Regeln richten und ihren naturwüchsigen Widerstand in einem geduldigen Lernprozess zur Anpassung kurieren, so gibt der reine Markt die Regeln und Restriktionen vor, denen sich die Menschen nur anvertrauen müssen, um in gleicher Weise mitspielen zu können wie alle anderen auch.

Sieht man von der faschistischen Perversion ab, so zielt ein Grundzug allen utopischen Denkens, von Morus über Bacon, Campanella oder Marx bis zu Bloch oder McLuhan darauf, eine Gleichheit der Menschen zu verheißen, manchmal Gleichheit und Freiheit und als Apotheose Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit – jedenfalls immer Gleichheit. Noch jede Utopie ist an dieser irrealen Fixierung auf Gleichheit gescheitert. Überlässt man Menschen sich selbst, so scheinen sie nahezu alles daran zu setzen, sich abzusetzen, Unterschiede zu markieren, also Ungleichheiten zu wollen, auch wenn viele Folgen der Ungleichheit dann schmerzlich sind. Alle Erziehungsideen, von Rousseau bis zu Mao, scheitern an der inneren Hydra des Menschen, die umso mehr Motive für Ungleichheit gebiert, je brutaler ihr solche Motive amputiert werden.

Die Marktutopie entwindet sich diesem Dilemma und gewinnt daraus eine verblüffende Stärke. Sie interessiert sich nicht für Gleichheit oder Ungleichheit der Menschen. Sie postuliert eine viel radikalere Gleichheit, allerdings nicht der Menschen, sondern eine Gleichheit der Handlungsparameter auf dem Markt. In den beiden exklusiv relevanten Rollen auf den Gütermärkten, als Anbieter und Nachfrager, gelten Menschen in einer überwältigenden Humanität als gleich – unabhängig also von Religion oder Hautfarbe, Geschlecht oder Herkunft, Stärke oder Schönheit. Ein wenig getrübt wird diese Idylle dadurch, dass Menschen auch mit ihrer Arbeitskraft auf einem Markt auftreten müssen und auf diesem Arbeitsmarkt die Gleichheit bestimmten Qualifikationen unterliegt. Aber dies lässt sich als Besonderheit eines Spezialmarktes definieren und im großen Bild prinzipieller Gleichheit der Marktbedingungen an den Rand rücken, zumal jeder die Freiheit hat, statt als Arbeitnehmer als Unternehmer aufzutreten.

Statt auf Gleichheit der Menschen setzt die Marktutopie auf die Gleichheit gegenüber den Regeln des Marktes. Tatsächlich kennen diese Regeln keine Privilegien. Bill Gates unterliegt diesen Regeln in gleicher Weise wie Tante Emma, General Motors ebenso wie die Garage an der Ecke. Damit nicht genug. Wenn und weil diese majestätische Gleichheit gilt, ohne Ansehen der Person, erzeugt sie ohne weiteres Zutun der Akteure eine derivative Gleichheit der Entwicklungs- und Innovationsmöglichkeiten. Vergangene Verdienste und Leistungen zählen wenig, wenn überlegene Produkte oder Leistungen angeboten werden. Radikaler als jede Revolution sorgen die Regeln des Marktes dafür, dass etablierte Vorteile, Privilegien, Rangunterschiede oder althergebrachten Vorrechte hinweggefegt werden, sobald ein attraktiveres Produkt, ein besserer Preis, eine überlegene Leistung den Markt erreichen. Bis in die siebziger Jahre hatte IBM auf dem Markt für Computer und Software eine singuläre, als unschlagbar geltende Position. Die Firma wurde zum leuchtenden Lehrfall für Business Schools und zum Vorbild für nationale Entwicklungs- und Förderungsstrategien. Entsprechendes gilt für andere Marktführer wie Kodak, Daimler-Benz, Phillips und viele andere. Sie alle wurden gnadenlos von ihrem Sockel gestoßen, weil neue Produkte und bessere Angebote auf dem Markt erschienen. Josef Schumpeters „produktive Zerstörung“ erreichte sie alle, und nur weil sie sich selbst diesen Regeln des Marktes unterwarfen, konnten sie sich ihrerseits mit innovativeren Produkten und preiswerteren Angeboten wieder hocharbeiten.

Die Utopie des reinen Marktes ist deshalb eine genuin moderne Utopie. Sie setzt nicht wie die alten Utopien, und noch der Marxismus, auf konkrete Inhalte utopischer Glückseligkeit, auf bestimmte Endzustände der Geschichte als utopische Vollendung eines Menschheitstraumes. Vielmehr begnügt sich die Marktutopie damit, Verfahren und Randbedingungen zu postulieren, die dann wie ein deus ex machina einen in seiner Komplexität beliebig steigerbaren Prozess produzieren, eine utopische Kontinuität der Veränderung, die selbstreferentiell und selbstkorrigierend die Menschen in den Bann eines Ordnungsmodells schlägt, das nicht von edlen Motiven abhängt, sondern von elementaren Egoismen.

„Die Marktwirtschaft“, so definiert Karl Polanyi die Utopie des reinen Marktes (1984: 102 ff.), „ist ein ökonomisches System, das ausschließlich von Märkten kontrolliert, geregelt und gesteuert wird; die Ordnung der Warenproduktion und -distribution wird diesem selbstregulierenden Mechanismus überlassen. … Weiter darf es kein Eingreifen in die Anpassung der Preise an geänderte Marktbedingungen geben, ganz gleich, ob es sich um den Preis von Waren, Arbeitskraft, Boden oder Geld handelt. Es muss daher nicht nur Märkte für alle Elemente der Wirtschaft geben, sondern es darf auch keine Maßnahme oder Politik zugelassen werden, die das Geschehen auf diesen Märkten beeinflussen würde. Es dürfen daher weder der Preis noch Angebot oder Nachfrage festgesetzt oder geregelt werden; zulässig sind nur solche Richtlinien und Maßnahmen, die die Selbstregulierung des Marktes sichern, indem Verhältnisse geschaffen werden, die den Markt zur einzigen wirksamen Kraft im wirtschaftlichen Bereich machen“.

So braucht die Marktutopie keine Revolution zu postulieren und in die Köpfe der Menschen einzuhämmern. Sie ersetzt die eine große Revolution durch Myriaden kleiner lokaler Anpassungen. Auch diese können sich zu Umwälzungen kumulieren, aber dazu bedarf es keiner revolutionären Garden, sondern nur eigennütziger Käufer. Was für eine Erleichterung für Revolutionen. Die Legitimität der laufenden Umwälzungen steht außer Frage. Erfolg bedeutet Legitimität. So wie Wahlerfolg politische Legitimität erzeugt, so erübrigt Erfolg auf dem Markt alle weiteren Fragen, zumal beide Seiten der Markttransaktion ihre Beziehung freiwillig eingehen, also kein Käufer zu einem bestimmten Kauf, kein Verkäufer zum Verkauf gezwungen wird. Solange der Markt Wahlmöglichkeiten bietet, erzeugt er in frappierender Automatik Legitimität und Effizienz.

An dieser eingebauten Automatik erweist sich die paradox inhumane Modernität der Marktutopie. Sie setzt alles auf die Karte des rationalen Akteurs, auf die Karte der interessegeleiteten Entscheidung einzelner Menschen und scheint so nichts wichtiger zu nehmen als diesen einzelnen Menschen. Aber zugleich stellt sich heraus, dass es auf die Einzelentscheidungen nur marginal ankommt. Tatsächlich kommt es auf abstrakte Aggregate von Entscheidungen an, die sich gegen andere Aggregate durchsetzen: z.B. Harrison Whites „tangible cliques of producers watching each other“ (1981, p. 543). Relevante Marktdaten ergeben sich für Akteure als Marktbeobachter immer erst aus der Aggregation vieler Transaktionen, die sich zu einem Trend oder Muster fügen (Hayek 1972: 16ff.). Dabei verschwindet der zuvor so prominent positionierte Mensch hinter einem Schleier der Irrelevanz. Die einzelne Wahlhandlung an sich ist ebenso unbedeutend wie die einzelne Wahlentscheidung in der Massendemokratie. Der Einzelne kann seine Bedeutung nicht an sich reklamieren, sondern nur als Element unterschiedlicher Aggregate, Gruppe, Kollektive etc. von Wählern oder Käufern, die Mehrheiten oder Marktanteile definieren (Saul 1997: 148).

Es ist aufschlussreich, das gebrochene Verhältnis zwischen Marktutopie und Individualität näher zu betrachten. Der Markt braucht keine Individuen, sondern nur Akteure, die beobachten und entscheiden können. Die Reinheit des Marktes und damit die Leuchtkraft der Marktutopie wachsen mit den Zahlen. Die Massenmärkte des Industriezeitalters waren schon ziemlich fortgeschrittene Manifestationen einer Marktlogik anonymisierter Tauschbeziehungen. Sie konnten sich jede Bezugnahme auf Individualität erübrigen, weil erst große Zahlen von Transaktionen „ohne Ansehen der Person“ diese Logik der Umsetzung von generalisierter Beobachtung in individuelles Entscheiden zum Tragen bringen. Heute, in einer neuerlichen, radikaleren Phase der Globalisierung, etablieren sich Weltmärkte, Märkte ohne Grenzen und Abschottung, die sich der Utopie des reinen Marktes asymptotisch annäheren. Es wäre bloße Romantik, Individuen auf diesen Märkten eine gesteigerte Bedeutung beizumessen. Es gibt so viele Individuen, dass es auf sie nicht mehr ankommt. Nur als Masse und Marktanteile sind sie unter Marktgesichtspunkten beobachtbar und damit real.

Auf einem mittelalterlichen Stadtmarkt, einem orientialischen Basar, einem indischen Dorfmarkt haben Personen eine entscheidende Bedeutung für gelingende Markttransaktionen. Das verliert sich im Zuge der Modernisierung. Auf etablierten Weltmärkten ist es eine blasse Erinnerung an vergangene Idyllen. Dass die Moderne den Individualismus fördere oder gar hervorbringe, ist deshalb eher ein Wunschdenken von Apologeten der Postmoderne, wie etwa die Scheinindividualisierung durch „individualisierte Massenproduktion“ zeigt. Vor allem, und dort wo es zählt, meint Modernisierung in Wirtschaft und Erziehung, Politik und Gesundheitssystem ein Zurückstutzen individueller Besonderheiten auf Quoten, Durchschnittswerte, statistisch relevante Muster und globale Trends.

Wie viele andere Utopien hängt auch die Marktutopie das Individuum, auch noch als rationales und eigennütziges, so hoch, weil es als Gallionsfigur sichtbar sein soll. Die Marktutopie kann sich diese romantische Schwäche leisten, eben weil es auf Individuen nur vordergründig ankommt, indem diese schließlich entscheiden, zu kaufen oder nicht zu kaufen. Aber hintergründig wirken die Marktlogik und ihre Gesetze als Architektur einer Institution des Marktes und eines Systems der Markttransaktionen, welche Individuen zwar noch braucht wie das Haus die Backsteine, sie aber in eine Form einschließt, der sie ebenso wenig entrinnen können wie der Backstein der Mauer. Die Person ist „just another brick in the wall“. Der Einzelne darf sich rational und eigennützig verhalten, aber indem er dies tut, vollzieht er eine Systemlogik, die nicht die seine ist und die keine Rücksicht auf kollaterale Schäden nehmen kann.

Atopia der Globalität

Heute ist das Ende der Welt nicht mehr durch die Säulen des Herkules auf Meeresengen markiert. Ort, Raum und Entfernung werden zunehmend zu vernachlässigbaren Größen für wirtschaftliche Transaktionen. Der Begriff der Ortlosigkeit, Atopie, bezeichnet diesen Moment der Marktutopie, der in der Idee des Utopischen das Nirgendwo zum Irgendwo steigert. Utopie bezeichnet einen Ort, den es nicht gibt. Atopie bezeichnet die Irrelevanz des Ortes, die globale Ortlosigkeit. Globale Infrastruktursysteme der Telekommunikation und der Verkehrstelematik, global präsente Massenmedien und Transaktionsnetze bagatellisieren den Platz, von dem aus man kommuniziert, bagatellisieren also Örtlichkeit (Willke 2001). In einer atopischen Gesellschaft mit globalem Radius findet die Marktutopie die Bedingungen ihrer Selbstverwirklichung. Auch wenn Marktökonomen dies habituell ausblenden, so leiden ihre idealisierten Märkte bislang doch an der territorialen, ortsgebundenen und örtlich bindenden Vormundschaft des Staates.

Die Selbstbeschreibung der Politik in der Moderne setzt zwar in humaner Absicht auf die Zivilisierung der Gewalt, und als historische Zäsur zweifellos zu Recht. Aber die praktische Arbeit der Zivilisierung vollbrachte die Politik vor allem in der Zähmung der Anarchie der Märkte. Diese bedrohten Leib und Leben der Bürger der sich entfaltenden Moderne zumindest ebenso massiv und direkt wie innerer und äußerer Unfriede. Verelendung und Proletarisierung der ländlichen Massen war das Werk der ungehemmten Marktlogik. Erst als die Folgen dieser Barbarisierung die politischen Systeme selbst mit der Möglichkeit von Revolutionen konfrontierte, zumal unter dem Einfluss der konkurrierenden Utopie des Kommunismus, sah sich die Politik – besonders deutlich unter Bismarck in Deutschland und in England unter dem Einfluss von Reformern wie Robert Owen und William Beveridge – gezwungen, dem verheerenden Wirken freier Märke Einhalt zu gebieten.

Seitdem fällt auf die Marktutopie der Verdacht, eine zutiefst inhumane Ordnung zu postulieren, die zwar die Produktion und Verteilung von Gütern unter Kostengesichtspunkten optimiert, die humanen Kosten dieses Regimes aber ignoriert. Je erfolgreicher einzelne Gesellschaften darin waren, in Formen des Wohlfahrtsstaates die politische Bändigung des freien Marktes mit einem dennoch funktionierenden Industriekapitalismus zu verbinden, und je bedrohlicher die real existierenden Umsetzungen der sozialistischen Utopie sich darstellten, desto stärker verhinderte dieser Verdacht die Entfaltung der Utopie des reinen Marktes.

Die weitreichendsten neuen Restriktionen politischer Steuerung sind die beiden Komplexe von Umwälzungen, die sich gegenwärtig als die Dynamiken der Wissensgesellschaft und der Weltgesellschaft bündeln. Die treibende Kraft der Wissensgesellschaft ist organisierte Komplexität, die auf spezialisiertem Wissen beruht und zugleich von der ubiquitär werdenden Wissensbasierung aller sozialen Prozesse rekursiv verstärkt wird. Das treibende Moment der Weltgesellschaft ist Globalisierung, verstanden als ein Prozess, der auf der Basis neuer globaler Infrastrukturen für Kommunikationen und Transaktionen nationale Grenzen unterspült und brüchig macht und zugleich mit jedem gelingenden globalen Teilmarkt eine rekursive Selbstverstärkung füttert.

In dem Maße wie organisierte Komplexität und Globalisierung eine nationalstaatlich strukturierte politische Steuerung der Gesellschaft, vor allem aber der Bereiche Wirtschaft und Finanzmärkte, in die Defensive drängen, profiliert sich der Markt als einziges alternatives Modell der Steuerung komplexer Systeme von Austauschbeziehungen. Das haben die entwickelteren sozialistischen Gesellschaften anders gesehen und sie sind an dieser Fehleinschätzung gescheitert. Heute bietet vor allem China Anschauungsunterricht dafür, dass selbst ein Entwicklungsland mit überwiegend agrarisch lebender Bevölkerung und einer Wirtschaftsleistung, die nicht einmal 15% derjenigen von Japan erreicht, sich trotz und neben einer sozialistischen Politikutopie in seinen wirtschaftlichen Transaktionen der Marktidee verschreibt, um eine auf Wissensbasierung und Globalisierung gründende Zukunft nicht ganz zu verpassen.

Seltsamerweise haben die Propheten der Marktutopie nur ganz verstohlen die zivilisatorisch-weltbürgerliche Explosivkraft ihrer Utopie herausgestellt. Für Smith wie für Ricardo, für Marshall wie für Samuelson war es wohl zu phantastisch und schlechthin undenkbar, die staatliche Eingrenzung von Menschen und Märkten in Frage zu stellen und der Hobbes’schen Urangst vor drohender Anarchie zu widerstehen. Noch erstaunlicher ist, dass es der gewöhnlich als Apologet des autoritären Staates abgestempelte Hegel war, der seine Geschichtsphilosophie auf der zu erwartenden Koinzidenz von Rationalität, Freiheit und liberalem Staat aufbaute und der konsequenterweise die Weltgeschichte als Entwicklungsprozess mit der Schlacht von Jena 1806 enden ließ, weil hier die weltbürgerlichen Ideale der Französischen Revolution aus ihrer nationalen Vereinnahmung durch den Bonapartismus befreit wurden. Zumindest darauf hat Francis Fukuyama zu Recht insistiert (1992: 60ff.) und diesen Hegel’schen Grundgedanken weitergeführt in das Lob einer auf liberale Wirtschaftsprinzipien gegründeten universalen Konsumkultur.

Die historische Ironie dieser Situation ist, dass die Emanzipation des Marktes in seine eigenen Rahmenbedingungen hinein just in dem Moment seiner Geschichte erfolgt, der den Beginn des Endes der Bedeutung von Örtlichkeit überhaupt markiert. Die Utopie des Marktes stößt auf die Atopie der Transaktionen. Die atopische Gesellschaft beginnt sich entlang der Prämisse zu formieren, dass die Differenz der Orte zur Einheit globaler Erreichbarkeit ohne spürbare Kosten und ohne spürbare Zeitverzögerung verschmilzt und sich der neuen Differenz des Zugangs/Nichtzugangs zu den entsprechenden Netzen digitalisierter Transaktionen beugt. Atopia als die Utopie der Ortlosigkeit, als die Utopie der Irrelevanz divergierender Örtlichkeit, hat in den nahezu verzögerungsfreien und kostenlosen digitalen Transaktionen des Internets und in der zeitgleichen globalen Reichweite satellitengestützter Kommunikationsinfra-strukturen ihre stärksten Argumente.

Auch in der kompetitiven und möglicherweise schöpferischen Zerstörung der nationalstaatlich monopolisierten Regulierungsregimes als den Säulen öffentlicher Suprastrukturen scheint die Atopie der Transaktionen im Kontext einer durch Örtlichkeit nicht mehr bestimmten Wirtschaftsgesellschaft auf. Standards als vor die Klammer gezogene kollektive Regularien für private ökonomische Transaktionen lassen sich lokal oder national fassen, solange die dazugehörigen Märkte sich ihrerseits mit lokaler oder nationaler Reichweite begnügen und als „Nationalökonomien“ dem Primat der Politik unterworfen sind. Ist diese Prämisse mit der Globalisierung der Märkte hinfällig, dann sind Lokalisierbarkeit und örtliche Spezifität des Standards ebenso irrelevant. Sie machen einer atopischen Weite und Universalität Platz, die sich zum einen tatsächlich in der universalen Ubiquität und Uniformität von McDonald’s und Coca Cola, von GSM und CNN zeigen, zum anderen aber auch darin, dass der Popanz lokaler Souveränität und Willkür zum ersten Mal in der Geschichte einer weltbürgerlichen Freizügigkeit weicht, welche die Despotie lokaler Anbindung und Eingrenzung durchbricht, um in der Freiheit eines atopischen Marktes Örtlichkeit als Kontingenz zu realisieren. Dies gilt mit Hilfe von Kabelnetzen, Modems und Satellitenempfängern auch für heute noch geschlossen erscheinende Systeme wie China, die sich – wie vor fünfhundert Jahren die Kirche gegen den Buchdruck – ebenso verzweifelt wie aussichtslos gegen Öffnung und Offenheit wehren (Wright 2000: 6). Wenn in diesem Sinne Örtlichkeit zu einer wählbaren Option wird, nicht zu einer durch Geburt und Tradition verordneten Hypothek, dann erst wären Mythos und Überschätzung von Örtlichkeit, die sich in Deutschland noch in der Höhe der Besoldung von Oberbürgermeistern und Stadtdirektoren zeigen, gebändigt und der disziplinierenden Freiheit expliziter Wahl ausgesetzt.

Atopie und die Merkmale atopischer Gesellschaft sind kein Argument gegen die Notwendigkeit von Suprastrukturen. Auch eine atopische Gesellschaft braucht Kontextregeln für die Steuerung ihrer Transaktionen und Kommunikationen. Atopie bringt allerdings ins Relief, dass die Vereinnahmung und Monopolisierung von Suprastrukturen durch die Politik des Nationalstaates historische Epoche bleibt, wie alles andere auch. Die Frage ist, welche Akteure und Instanzen an die Stelle des Nationalstaates treten können und treten werden, um die erforderlichen Suprastrukturen zu schaffen, und welche Akteure und Instanzen darüber entscheiden, welche Suprastrukturen erforderlich sind.

In all ihrer machtgestützten Souveränität hat die Politik der Demokratien es ausschließlich damit zu tun, die Vorbedingungen der Operationsmöglichkeiten gesellschaftlicher Funktionssysteme zu schaffen und deren negative Externalitäten sozialverträglich abzuarbeiten. Die einzigen Ausnahmen sind die Kollektivgüter des Schutzes gegen äußere und innere Feinde, also Friede und Rechtssicherheit. Ansonsten aber ist die Politik der Reparaturbetrieb einer hochkomplexen, risikoreichen und in vielen Hinsichten nicht mehr steuerbaren Gesellschafts-maschinerie, welche von den Operationslogiken funktional differenzierter Teilsysteme getrieben wird. Die hellsichtigste Politik lässt sich deshalb dort beobachten, wo sie nicht nur auf die übliche Bruchquote der Funktionssysteme wartet, sondern voraussieht, dass in die Operationslogik autonomer gesellschaftlicher Funktionssysteme eine selbstzerstörerische Dynamik eingebaut ist, die sich paradoxerweise gerade ihrem Erfolg verdankt. Die Erfindung des Sozialstaates gründet auf einer solchen Hellsichtigkeit. Die heute erforderlich erscheinende grundlegende Revision des Sozialstaates setzt eine vergleichbare Leistung politischer Hellsichtigkeit voraus.

Die soziologische Problematik von Globalisierung und Globalität liegt darin, dass die bislang nationalstaatlich verfassten Gesellschaften durch die Herauslösung bestimmter Funk-tionssysteme – wie etwa Ökonomie, Wissenschaft oder Kunst – aus dem Kontext territorialer Einbindung und gesellschaftlicher Selbststeuerung in ihren Fundamenten erschüttert werden, während neue Formen der Restabilisierung noch nicht erkennbar sind. Insbesondere leistet der entstehende globale Kontext diese Restabilisierung noch nicht, weil auch nicht ansatzweise Kapazitäten der globalen Selbststeuerung institutionalisiert sind.

Genau diese historisch singuläre Koinzidenz von Gesellschaftlichkeit und Territorialität zerbricht gegenwärtig in der „post-nationalen Konstellation“ (Habermas 1998) einer vielschichtigen und keineswegs homogenen Auflösung nationalgesellschaftlicher Prärogative der Selbststeuerung. Ohne hier ins Detail gehen zu können, lässt sich doch festhalten, dass die etwas fruchtlose Debatte zwischen den Verkündern eines Endes des Nationalstaates allmählich differenzierteren Analysen Raum gibt, die den Verlust nationalstaatlicher Steue-rungskompetenzen und -fähigkeiten auf spezifische Faktoren der Ausbildung transnationaler Steuerungsregimes für ganz bestimmte Funktionssysteme zurückführen.

Jedenfalls fordern die sich bildenden lateralen Weltsysteme die territorial gebundenen, nationalstaatlich konstituierten modernen Gesellschaften genau in der Kompetenz heraus, die sie zu Gesellschaften macht: in der Souveränität ihrer Selbststeuerung.

Der u. a. von der Systemtheorie immer wieder monierte Widersinn einer Trivialisierung komplexer Sozialsysteme hat sich im Falle des Sozialismus auch durch eine immer repressivere Praxis nicht halten lassen; und er hat sich im Falle hierarchisch-zentralistischer Organisationen auch durch technologische Hilfsmittel nicht retten lassen. Dieses praktische Scheitern einer Theorie der Systemsteuerung wird nicht ohne Auswirkungen auf „westliche“ Vorstellungen der Gesellschaftssteuerung durch Politik und der Organisationssteuerung durch Management bleiben. Phantasien der Machbarkeit, ja Erzwingbarkeit organisationaler Reformen und Restrukturierungen, die vor allem das wohlfahrtsstaatliche Denken noch prägen, werden weiter in die Defensive gedrängt werden. Die von oben verordnete Beglückung der Menschen durch Wohlfahrtsgesellschaft und benevolentes hierarchisches Management wird noch fragwürdiger werden.

Dystopia der Symbole – Rolle der Kunst?

Die Entzweiung der symbolischen und der reellen Welt begleitet das Denken seit seinen Anfängen und findet in Platos Höhlengleichnis eine erste bleibende Form. Die Wissensgesellschaft bringt hier eine seltsame Inversion der Prioritäten. Frühere Formen von Gesellschaft, und besonders deutlich die Industriegesellschaft, gestehen nur den materiellen Fakten eine reale Bedeutung zu und bestehen auf einer empirischen Beweisbarkeit aller Ideen. Ideen geraten in den Strudel einer Aufklärung, die mit den religiösen Mythen auch die weltlichen Imaginationen in Verruf bringt, die Philosophen und Phantasten errichten, um in das Chaos des Reellen Ordnung und Deutungsmuster zu bringen.

Die Wissensgesellschaft kehrt in dieser Hinsicht zu Plato zurück und verhilft der Welt der Symbole wieder zum Vorrang über die Welt der Dinge. Die symbolischen Ebenen steuern die materiellen, wie das globale Finanzsystem das Schicksal der realen Ökonomie steuert oder die Modelle der Pädagogik die reale Erziehung. Aber anders als in Platos Welt der Ideen muss die Wissensgesellschaft wissen, dass ihre Symbolsysteme alles andere als benevolente und harmonische Formen des Idealen sind. Vielmehr haben sie sich zu komplexen und intrans-parenten Architekturen aufgetürmt, die – wie die Risikomodelle des Long Term Capital Management-Fonds – heute genial erscheinen und morgen einstürzen können. Die Symbolsysteme der Wissensgesellschaft setzen sich aus Formen zusammen, die ihre „anderen Seiten“ unverlierbar mit sich tragen. Dies bringt Diskontinuitäten ins Spiel, die lineare Erwartungen zwingend enttäuschen und so den Eindruck verstärken, dass die Ideenwelten der Wissensgesellschaft weniger eine kosmische Ordnung spiegeln als das strukturierte Chaos einer symbolischen Anarchie.

Insgesamt wuchern Symbolsysteme mit ihrer Trennung von den realen Dingen zu Konstellationen von „haltloser Komplexität“ (Luhmann), die in sich und um sich selbst kreisen. Sicherlich erwachen Symbolsysteme erst zum Leben, wenn sie von Personen aktiviert, in Kommunikationen verwendet und damit in die Operationsweise sozialer Systeme eingebaut werden. Aber sie sind in dieser Potentialität von konkreten Personen und Systemen unabhängig. Niemand schaltet Symbolsysteme an oder ab, niemand beherrscht sie und sie gehören niemandem. Niemand erzeugt oder verändert sie eigenhändig. Und niemand definiert alleine die Regeln ihrer Verwendung. Sie folgen einer Logik, einer Grammatik der Verknüpfung von Elementen, die unabhängig von einzelnen konkreten Personen ihren Anfang und ihren Ausgang in sozialen Praktiken nehmen. Paradigmatisches Beispiel hierfür ist wiederum der operative Primat der Sprache als symbolisches System gegenüber dem jeweiligen individuellen Sprechen. Die Regeln der Sprache geben die Möglichkeiten des Sprechens vor, obwohl nur das Sprechen die Sprache operativ werden lässt. Die sozialen Praktiken setzen die Anfangsbedingungen für die spezifische Logik eines Symbolsystems, von denen es sich mit zunehmender Anonymisierung, Entfaltung und Eigenkomplexität entfernen kann, bis sich die konstituierenden Verhältnisse umkehren: Während zunächst Menschen bestimmte Symbolsysteme in Gang bringen, um bestimmte Probleme zu lösen, entwickeln sich daraus generalisierte Formen der Definition denkbarer Lösungen, welche die Probleme vorgeben, die Personen haben können, wenn sie Symbolsysteme aktivieren. Das Papierkorbmodell („garbage can“) für organisationales Entscheiden, wonach nicht Probleme nach Lösungen suchen, sondern vorhandene Lösungen nach Problemen, fasst diese Logik aufs Schönste.

Trotz aller Autonomie gibt es demnach strukturelle Kopplungen zwischen den symbolischen und reellen Welten, die sich in ihren Gewichtungen historisch, ideologisch und technologisch verändern können. Das heute mögliche Übergewicht der Symbole auch außerhalb der Sprache hat einen seiner Gründe in der technologischen Innovation digitaler Computer, die John von Neumann bereits 1945 beschrieben hat. Digitale Computer eröffnen eine neue Dimension der Symbolisierung, indem sie nicht mehr nur, wie Inschriften oder Bücher, Daten speichern können, sondern auch Instruktionen zu Behandlung der Daten und Instruktionen über die Verwendung von Instruktionen. Dies ermöglicht eine symbolische Architektur verschiedener Sprachebenen, von der einfachen maschinen-nahen Sprache über Programmiersprachen bis zu hoch aggregierten Operationssystemen und integrierten Programmen (Evans und Wurster 2000: 34).

Was sich hier in den Tiefenstrukturen der digitalen Revolution als wirkliche Revolution abzeichnet, ist die selbstreferentielle Steigerung symbolischer Systeme zu Konglomeraten vernetzter Wirkungsketten. Sie beruhen auf der von John von Neumann beschriebenen Möglichkeit, in digitalen Programmen Daten und Instruktionen autonom zu verknüpfen und daraus im Prinzip beliebig steigerbare Architekturen automatisierter Verknüpfungen zu generieren, die nicht mehr von den Motiven und Interessen einzelner Personen abhängen, sondern, wenn überhaupt, dann nur noch von Personen als kontextuierenden Randbedingungen der Operationsweise symbolischer Systeme.

Ein entsprechendes Argument liegt der Fähigkeit zur Bildung langer Handlungsketten in Norbert Elias’ Theorie des Zivilisationsprozesses zugrunde. Dort ist es die Steigerung der Erwartbarkeit und Verbindlichkeit von Handlungen durch die Geltung anonymisierter und (verhältnismäßig!) disponibler Symbole von Macht, Geld und Wissen, welche die real gebundenen Handlungen von Personen symbolisch erweitert und in einer ersten Welle der Globalisierung zu weltumspannenden Handlungsketten expandiert. Ob dies nun zur Zivilisierung beigetragen hat oder nicht, sei dahin gestellt. Jedenfalls gewinnen damit symbolisch getragene Handlungsketten und komplexe Handlungskonstellationen einen prägenden Einfluss auf das reale Alltagshandeln von Menschen und Organisationen. Symbole werden zu dem Kitt, der Einzelhandlungen zusammenhält und die Bildung von Mustern und Konstellationen von Handlungen erlaubt, die sonst an den realen Begrenzungen von Zeit und Raum scheitern müssen.

Die Entzweiung der symbolischen Welten lateraler Weltsysteme und der realen Welt territorial gebundener Gesellschaft verlangt nach einer Politik, die über Verstand hinaus Verständigung und über Wissen hinaus Systemrationalität ins Spiel bringt, indem sie das vielschichtige dezentrale Geschrei der Spezialisten zu einem zumindest passablen Konzert zusammenführt – ohne die Rolle des Dirigenten übernehmen zu können. Erst darin könnte sie die fatale „Differenz zwischen Steuerungs- und Verständigungsproblemen“ (Habermas 1985: 421) aufheben, die entgegen Habermas nichts mit den Idyllen der Lebenswelt zu tun hat, sondern mit der Unfähigkeit der Politik, ihre Aufgabe in einer neuen Form und Konstellation von Gesellschaft zu begreifen.

„Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie“, hatte Hegel in einer vergleichbaren Umbruchkonstellation formuliert (Hegel 1986: 22). Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Gesellschaft verschwindet und die Gegensätze der Operationslogiken der Funktionssysteme ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht „das Bedürfnis der Politik“. Hegel fortgedacht, ginge es dann allerdings um eine Politik, die tatsächlich das Allgemeine und die Beziehungen und Wechselwirkungen der Teile im Auge hat und ihre Aufmerksamkeit auf die schwierige Balance zwischen der möglichen Selbständigkeit der Teile und der notwendigen Steuerung ihrer Wechselwirkungen legt.

Nicht einmal diese Aufgabe wird die Politik aus eigener Kraft lösen können. Sie wird auf die Fähigkeiten vieler verteilter Organisationen und Institutionen und auf die Reputation von Regimes „privater Autorität“ zurückgreifen und auch darin den Übergang von „government to governance“ weitertreiben müssen. Aber in der Moderierung von Verständigungsprozessen zwischen diesen verteilten Akteuren und Systemen, in der Steuerung der Anarchie symbolischer Systeme könnte die spezifische Kompetenz der Politik reifen, die kein anderes System hervorbringt. „Es ist insofern eine Zufälligkeit“, ließe sich mit Hegel fortfahren, aber unter der gegebenen Entzweiung von symbolischer und realer Welt, von Funktionssystemen und Gesellschaft, von Organisationszwecken und Systemrationalität, von Innovationen der Symbolsysteme der Teile und Systemrisiken des Ganzen, von zyklopischen Visionen der Spezialisten und kollektiver Vernunft einer Gesellschaft müsste Politik der notwendige Versuch sein, „diese Entgegensetzungen aufzuheben und das Gewordensein der intellektuellen und der reellen Welt als ein Werden zu begreifen“, das der Moderierung und Supervision durch Politik bedarf, weil eine naturwüchsige Evolution heute mehr Kontingenzen und Optionen verschließt als eröffnet und damit zu viel Ordnung erzwingt und zu wenig Anarchie erlaubt. Evolution allein genügt nicht mehr. „Nur diejenige Verworrenheit ist ein Chaos, aus der eine Welt entspringen kann.“ (Schlegel 1958ff.: 263)

Zum ersten Mal in ihrer Geschichte stehen Menschen vor der Zumutung, einer Fähigkeit ungeschützt ins Auge zu sehen, mit der sie die biologische Evolution zufällig ausgestattet hat und die sie bislang zwar am Rande genutzt und in ihren Denkern, Philosophen, Wissenschaftlern und Erfindern in insgesamt nebensächlichen Spezialfeldern zur Blüte gebracht haben, die aber noch nie den Gang der Geschichte besonders beeindrucken konnte, sondern im Zweifel immer der Not des Hungers oder der Gewalt der Stärkeren sich unterordnen musste: der Fähigkeit des Denkens und Imaginierens nämlich, welche nun nach einer langen Anlaufzeit erlaubt, über ein extrem beschleunigtes kontinuierliches Lernen Wissen zur Basis aller Lebensprozesse zu machen, mithin auch noch Leben und Überleben selbst zum Projekt wissensbasierter Strategien zu erzwingen und gesteuerter Entwicklung zu unterwerfen.

Diese kognitive Wende der Menschheitsgeschichte setzt voraus, dass die biologischen Abhängigkeiten von Nahrung, Territorialität und Familialität zwar nicht ganz verschwinden, aber zu nachgeordneten Beschäftigungen werden. Wenn die Versorgung mit Nahrung durch zwei oder ein Prozent der arbeitenden Bevölkerung gewährleistet, Territorialität durch globale Interdependenz und Vernetzung aufgehoben und Familialität durch die Proliferation familienähnlicher Ersatzformen der frühkindlichen Sozialisation und der Intimität aufgefangen sind, dann ist ein Grad der Unabhängigkeit von der organismischen Bindung des Menschen erreicht, der es erlaubt, die eine über das Tierische hinausreichende Qualität des Menschen, die Qualität kognitiver Rekonstruktionen und Projektionen seiner Welten, zur vorrangigen Basis seiner materiellen, personalen und sozialen Existenz zu machen.

Die Krisis einer Politik, die Regieren im Kontext einer atopischen Wissensgesellschaft neu erfinden muss, indem sie gegen die Hysterese vergangener Erfolge ihre Kernkompetenzen neu definiert und aufbaut, erzeugt in ihren überkommenen Symbolsystemen, vor allem in den Regelsystemen des Rechts, den Verteilungs- und Umverteilungslogiken des Sozialstaats und in den Tiefenstrukturen symbolischer Ortsbezogenheit eine notwendige Konfusion. Auf der Oberfläche scheinen es noch dieselben Regeln zu sein und sie scheinen noch zu gelten, aber in den Tiefenstrukturen ihrer Logik und in den Grammatiken ihrer Verknüpfungen wütet ein Virus atopischer Auflösung. Die etablierten festen Zuordnungen weichen einer dezentralen Logik kontingenter situativer Rekombinationen. So spielen beispielsweise ein sich dezentral auflösendes Tarifrecht, lokale Betriebsvereinbarungen, Beschäftigungsinitiativen, Regelungen zu Green oder Blue Cards, lokale Subventionen und EU-Regeln zum Verbot von Subventionen etc. zusammen, getrieben von einem perzipierten globalen Wettbewerb der Standorte. Die Logik juristischer Symbolsysteme gerät unter einen Anpassungsdruck, der ihre innersten Prinzipien gefährdet – die Normativität der Normen – und sie mit der Alternative einer Symbolik kognitiver Erwartungserwartungen konfrontiert. Kein Wunder deshalb, dass eine anarchische Erschütterung durch die Symbolsysteme des Rechts drängt. Symbolsysteme als operativ geschlossene und nicht-intentionale Systeme reproduzieren in ihrer Grammatik eine Analektik von These, Antithese und Hysterese, die der harmonistischen Dialektik menschlicher Perzeption – Auflösung in Synthese und Vermeidung kognitiver Dissonanzen – entgegenläuft und auch darin die Diskontinuitäten zwischen Mensch und Gesellschaft vertieft.

Luhmann macht für die Kunst geltend, dass es ihre gesellschaftliche Funktion sei zu zeigen, „dass im Bereich des Möglichen Ordnung möglich ist“ (Luhmann 1990: 38). Verwegener formuliert Adorno: „Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen“ (Adorno, zit. in Welsch 1994: 25). Ganz in diesem Sinne gilt heute für die Kunst globaler Politik und globaler Gouvernanzregime, dass es darum geht zu zeigen, dass im Bereich des Möglichen – d. h. der Steuerung kontingenter Optionen – Unordnung möglich ist. Für die Kunst selbst ist aus dieser Sicht zu fordern, dass sie das Geschäft der Schaffung gezielter Unordnung stärker als bislang zu ihrem eigenen mache. Hier können Überlegungen zur Veränderung von Politik unter Bedingungen der Globalität Anregungen geben, aber machen muss die Kunst das schon selbst.

Plus ultra posse nemo obligatur?

Der alte Rechtsgrundsatz, dass von niemandem gefordert werden darf, was er/sie nicht könne, wird in atopischen Konstellationen auf den Kopf gestellt. Die systemischen Verhältnisse fordern unerbittlich, was Personen als Individuen nicht leisten können. Personen brauchen daher Verbündete. Sie müssen sich, entgegen dem vermeintlichen Trend zur radikalen Individualisierung, just mit den Instanzen verbünden, die sie als Ursache der Misere ausmachen: die großen Symbolsysteme der atopischen Wissensgesellschaft, einschließlich der Kunst.

Ob dies die Kunst überfordert, kann nur die Kunst selbst beantworten. Ob sie darüber moralisch wird, kann nur sie selbst entscheiden. Die Auflösung der gewohnten Ordnungen eines utopischen Marktes, einer territorial organisierten Politik und einer erbaulichen Kunst gibt einer an den Rändern der Welt und des Chaos spielenden Kunst neue Möglichkeiten: Plus ultra!

*Erstabdruck in: Stefan Bidner, Thomas Feuerstein (Hg.), Plus ultra. Jenseits der Moderne?/Beyond Modernity?, Frankfurt 2005, S. 213 - 224.

Literatur

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• Wright, Robert. 2000. „Modem-borne liberty could take time to bear fruit.“ In: International Herald Tribune, Jan. 29-30, 2000: 6.

Thomas Feuerstein
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F. E. Rakuschan
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Thomas Rainer
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