Texte im Raum

Auch im konventionellen Sprachgebrauch beanspruchen Schriftzeichen Raum zur Gliederung des Textes. Zwischen visuellen und gedachten Strukturen gibt es Übereinstimmungen und Entsprechungen. Veränderte Aspekte der Betrachtung treten auch optisch hervor. Einzüge innerhalb der Zeilenfolge setzen Argumente, Deduktionen oder Themen voneinander ab. In Gedichten wird der Raum zwischen den Strophen auch inhaltlich durch logische und assoziative Zäsuren bestimmt.

Schriftgröße, Schriftschnitt und Satzspiegel beeinflussen Übersichtlichkeit und Lesbarkeit. Die typographische Gestaltung strebt nach optimalen ästhetischen Resultaten. Manchmal spielt dabei der Inhalt des Gedruckten, seine sachliche oder historische Zugehörigkeit und Herkunft eine wichtige stilistische Rolle.

Im Gegensatz dazu ist bei Textinstallationen der Raum nicht nur Hintergrund, getrennt vom Text, sondern Text und Raum sind aufeinander bezogen.

Richtungswechsel und Unterbrechungen von Linien ermöglichen in der Schrift die Vermittlung kompliziertester Sachverhalte. Kurven und Geraden evozieren Vorgestelltes und Gedachtes. Zu unterscheiden ist zwischen Begriff und Gegenstand. Begriffe sind Ideen, sie stimmen nicht mit nur einem einzigen Objekt der Wahrnehmung überein. Transzendentalbegriffe und Kategorien wie Raum, Zeit, Qualität, Quantität, Beziehung, Grenze, Ursache usw. sind unabhängig von einzelnen Gegenständen. In Textinstallationen geht es um die Präsentation von Begriffen im Zusammenhang mit dem Raum oder um die Integration von indikatorischen Bezeichnungen und räumlichen Situationen. Der Lesevorgang wird vom Zwei- ins Dreidimensionale übersetzt.

Indikatoren sind keine Beschreibungen der Wirklichkeit, sondern Akzentuierungen und Modifikationen des Wahrnehmbaren durch die Sprache. Raumtexte bilden Konstruktionen aus Wörtern, Punkten, Linien und Flächen. Das Sichtbare ist hier in semantischer Mehrdeutigkeit, Indifferenz und Unabgeschlossenheit etwas Potentielles, das erst durch die Begriffe die Entschiedenheit des Faktischen gewinnt.

Eine Horizontale in Augenhöhe kann eine Trennlinie oder der Abschluss eines Sockels sein. Bringt man sie aber mit dem Begriff "Horizont" zusammen, dann wird die untere Hälfte der Wand zum Vordergrund, die obere zum Tiefenraum. Die beiden ursprünglich neutralen Wandflächen erscheinen als Nähe und Ferne.

Durch die indikatorische Betonung eines einzelnen Aspektes reduziert sich das Sichtbare nur auf diese eine Bestimmung. "Gegenüber" bezieht sich nicht auf das Rechteck, die Farbe, das Material, sondern einzig auf die allen Dingen gemeinsame Kategorie des Gegenüberseins. Der Trennung von Subjekt und Objekt entspricht der Begriff "Gegenstand".

Die drei fragmentierten Worte "weiss" erhalten ihren Sinn als Text nur durch die weiße Fläche, die sie umgibt. Thematisiert ist die Differenz zwischen dem gedachten und dem sichtbaren "weiss". Der Übergang von einem zum andern und ihre gegenseitige Durchdringung manifestiert sich je nach der Leserichtung von unten nach oben oder umgekehrt im Verschwinden oder Aufscheinen der Schrift.

Das Elementare der Text- und Linienkonstruktionen besteht in der Insistenz auf die Allgegenwart des Raumes. Der konzeptuelle Ansatz und die formale Struktur bedingen sich gegenseitig. Raum und Zeit sind keine Wahrnehmungsobjekte. Die evokative Intensität der Begriffe wird erkennbar in den Veränderungen der Rezeption von Sichtbarem durch Indikatoren. Sprache und geometrische Formen bilden in der Vorstellung ein konstruktives Ganzes, das den Raum als zentrale Instanz voraussetzt.

Raum ist in der Sprache präsent durch Präpositionen und Adverbien: "oben" bedeutet Höhe, "unten" Tiefe, "in" zielt auf einen umschlossenen Raum, "bei" auf Nähe. In der Vermittlung außersprachlicher Wirklichkeit entzieht sich die Apriorität dieser Begriffe; nur in der Reflexion, unabhängig vom Narrativen, zeigt sich der Zusammenhang zwischen dem Raum und der Realität des Gedachten.

Heinz Gappmayr