Helmut Willke

„Symbolic Anarchist“
Gesprächsnotizen*

Globalisierung

Mit den Prozessen der Globalisierung und der Herausbildung von Welt- und Wissensgesellschaft werden die Fundamente der klassischen Moderne in Frage gestellt. Momente, die sich heute als globale Merkmale darstellen, kündigen sich seit den 1980er Jahren in den Ländern Kontinentaleuropas und Angloamerikas an, wo die Umwandlung des traditionellen Nationalstaates eine veränderte Rolle von Politik, Macht und Territorialität bedingte. Aus der Auflösung der Hauptideen der klassischen Moderne resultiert ein Gemisch an Faktoren, das eine neue Gesellschaftsform hervorbringt. Für die Moderne lösen sich prägende Faktoren auf: Erstens die Idee des nationalstaatlich organisierten Territoriums, zweitens die Vorstellung eines eindeutigen und endgültigen Wissens – d.h. Nichtwissen wird mindestens so wichtig wie Wissen – und drittens die Gewissheit von Ordnung – Ordnung wird zu einer Mischung aus Ordnungs- und Unordnungsmomenten.

Wenn wir bedenken, wie wichtig die sich verflüssigende Idee der Ordnung für die gesamte Entwicklung der Moderne war – von Politik über Erziehung und Schule, die Ordnungen in den Gefängnissen und Irrenanstalten, die Foucault beschrieben hat, die Ordnung der hierarchischen Organisation, die Max Weber behandelt hat –, wird erkennbar, dass sich die leitenden Ideen der klassischen Moderne zumindest zu bewegen beginnen und ihre andere Seite ins Spiel bringen: Diese andere Seite heißt Auflösung von Territorialität, Nichtwissen und Unordnung.

Subjekt

Viele der traditionellen Orientierungsformen für das Subjekt lösen sich ebenfalls auf. Es zeigen sich zwei entgegen gesetzte Reaktionen auf diese Situation. Einmal die des sozusagen postmodernen Subjekts, das sich auf eine Patchwork-Identität einstellt und mit Kontingenzen umzugehen lernt. Die zweite Reaktion, die viel mehr Sorgen bereitet, zeigt eine Überforderung von Personen durch diese Entwicklung, wodurch sie in irgendwelche Ideologien, Fundamentalismen oder einfache Weltbilder regredieren.

Die Systemtheorie fragt, wie sich das Verhältnis des Individuums zu den vielfältigen sozialen Systemen verstehen lässt und welche Hilfestellungen dem Subjekt angeboten werden können. Erst wenn die Verlorenheit und die radikale Trennung des Subjekts von sozialen Systemen verstanden wird, kann in einem zweiten Schritt die Frage gestellt werden, wie das Subjekt mit dieser Distanzierung von gesellschaftlichen Realitäten und Funktionszusammenhängen fertig werden kann.

Die Trennung ist so radikal, da drei grundsätzlich unterschiedliche Symbolsysteme im Spiel sind: Erstens das Symbolsystem des Denkens oder Bewusstseins. Zweitens die Sprache im Sinne von Saussure und anderer Linguisten, die zu Recht darauf hinweisen, dass Sprache ein eigenständiges Symbolsystem mit Eigenlogik, Eigendynamik und Geschichte ist und es sich gewissermaßen um ein sehr distanziertes Instrument handelt, wo nicht sicher ist, ob das, was wir im Kopf haben oder denken, tatsächlich in den Begriffen der Sprache ausgedrückt werden kann oder nicht verfremdet wird, wenn wir gezwungen sind, es in Wörtern und in einer Grammatik auszudrücken. Drittens die Kombinationen von Bewusstsein und Sprache in Kommunikation. Sie stellt das Rohmaterial für sämtliche soziale Systeme bereit, weshalb sich aus Sicht der Systemtheorie alle Organisationsformen bis hin zu ganzen Gesellschaften als Muster und Verdichtung von Kommunikation begreifen lassen. Folglich liegt die Schlussfolgerung nahe, dass soziale Systeme noch weiter entfernt sind vom eigentlichen Denken und Fühlen der Person als die Sprache. Genau hier bricht der Riss zwischen der Eigenlogik der Systeme und der Logik der Personen auf.

Konfabulation

Bereits das mythische Denken, das Ernst Cassirer beispielsweise in seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ beschreibt, wird von einer Art naiver Konfabulationen geprägt, da die Menschen nicht bemerken, dass sie Geschichten erzählen. Konfabulation ist daher nicht auf pathologische Formen beschränkt. Im Gegenteil, sie ist der Normalzustand des Zusammenspiels von individueller Tätigkeit, der Rolle des Subjekts einerseits und vielen anderen Formen sozialer Systeme andererseits, die ihre eigene Geschichte erzählen.

Karl Weick hat dies im Grunde zum Thema seiner Arbeiten gemacht. Bei ihm sind Organisationen daraufhin ausgerichtet, gute Geschichten zu erzählen. Und ich denke, auf Personen trifft dies genauso zu. Was passieren sollte und wozu viel mehr Kompetenzen entwickelt werden müssten, wäre die unterschiedlichen Geschichten in einen produktiven Zusammenhang zu bringen. Dann würde ich von einer produktiven Konfabulation sprechen, im Gegensatz zu einer destruktiven, wo die Unterschiede zum Anlass von Konflikten gemacht werden. Dieses Geschichtenerzählen ist vielleicht der entscheidende Ansatz, die Bedeutung der Personen zu stärken, d.h. dem Subjekt die Chance zu geben, eine eigenständige Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die dadurch Stärken hat, dass die Person eben nicht mit Haut und Haaren in der Organisation, im Unternehmen, in der Universität oder im Krankenhaus steckt, sondern dass sie immer noch andere Seiten hat. Die Person definiert sich über die Vielfalt der Rollen, die sie zu einer Identität integriert und nicht über eine Organisation, welche die ganze Person vereinnahmt. Deshalb liegt die Stärke des systemtheoretischen Ansatzes darin, Person und Organisation zu trennen und zu erkennen, dass die Person nur in einem bestimmten Rollensegment Teil der Organisation ist. Nur wenn die Person ihre anderen Verknüpfungen oder strukturellen Koppelungen mit ins Spiel bringt, ist sie in der Lage, eine eigenständige Geschichte zu erzählen.

Die erste Stufe der Reflexion einer Konfabulation würde bedeuten, dass ich weiß, es ist nur eine Geschichte, die ich erzähle. Auf der zweiten Stufe der Reflexion bin ich mir nicht nur bewusst, dass es sich um eine fabrizierte Geschichte handelt, sondern ich gehe damit in strategischer Absicht um. Ich frage mich also, welche Geschichte will ich erzählen und in welchem Verhältnis zu den anderen will ich sie erzählen, wie will ich mich darin positionieren und wie will ich meine eigene Identität konstruieren.

Politik

Auf Ebene der Fundamentalismen und globalen Kulturkämpfe sehe ich einen anderen Mechanismus und eine andere Dynamik als auf Ebene politischer Geschichten, die zum Zwecke der politischen Beeinflussung des Publikums etwa über Massenmedien laufen. Im letzteren Fall geht es primär darum, dass die Politik als Funktionssystem der Gesellschaft eine eigene Logik realisiert, die von vielen Wählerinnen und Wählern nicht durchschaut wird. Politik ist stringent auf ihre eigene Logik abgestimmt, d.h. alles bezieht sich auf den Wahltermin und das Spiel Mehrheit-Minderheit. Es geht primär nicht um inhaltliche Richtigkeit, um Wohlfahrt, vernünftige Wirtschaftspolitik etc., sondern um die Frage, wie sich Dinge politisch auswerten lassen. Dort laufen Geschichten und das Verstehen von Geschichten völlig auseinander, weil der Bürger oder das Subjekt der Politik nicht mitvollzieht, dass die Politik in der Tat eine eigenständige Logik etabliert hat, nach der sie handeln muss. Die Politiker sind gezwungen, derart zu handeln, ansonsten werden sie abgewählt. Das ist die eine, die innenpolitische Seite. Die andere Seite zeigt sich im globalen Kampf. Dort geht es gegenwärtig weniger um politische als vielmehr um kulturelle Fragen, die religiös gefärbt sind und eine Auseinandersetzung zwischen Fundamentalismen darstellen. Gerade deshalb können sie in traditionellen Kategorien der internationalen Politik nicht begriffen und angemessen verstanden werden.

Leviathan

So seltsam manche Konstruktionen von Thomas Hobbes aus heutiger Sicht aussehen, gehe ich dennoch von seinem Leviathan aus. In einer Konstellation aus Bürger- und Religionskrieg war es eine zivilisatorische Leistung, den inneren Frieden durch einen Herrschafts- und Gesellschaftsvertrag zu etablieren. Die Verhältnisse haben sich natürlich grundlegend geändert und Probleme der Steuerung von Komplexitäten sind heute nur durch differenzierte, verteilte Modelle zu lösen. Ein aktuelles Hauptproblem ist die Steuerung von Wissen und Nichtwissen. Komplexe soziale Systeme und insbesondere komplexe Gesellschaften müssen heute vor allem das Problem verteilter Intelligenz und Expertise weit verstreuten Wissens bewältigen. Hier kommt die Besonderheit der Ressource Wissen zum Tragen: Wissen ist nicht zentralisierbar. Es gibt keine Person, die heute alles relevante Wissen im Kopf haben kann. Wenn ich das vorhandene Wissen zur Steuerung der komplexen Systeme nutzen möchte, ist es unabdingbar, Formen des Zusammenspiels verteilter Intelligenz – etwa in Netzwerken, in der Kombination von Selbststeuerung und Selbstorganisation mit einer Kontextsteuerung und einer Organisation von Randbedingungen – aufzubauen. Sehr viel komplexere Steuerungsmodelle sind notwendig, die nicht einheitliche Ordnung, sondern Heterotopien und Diversitäten zum Ziel haben.

Dies geht weit über die Komponenten von Subsidiarität einerseits und Föderalität andererseits hinaus. Auf allen Ebenen der traditionellen subsidiären Stufen – also von der Kommune über das Land bis hin zu einer horizontalen Subsidiarität, d.h. einer Subsidiarität der Zuständigkeit der einzelnen Funktionssysteme – wird zunächst auf Selbstorganisation und Selbststeuerung gesetzt, bevor ein weiterer Kreis von Zuständigkeiten institutionalisiert wird. Wir sehen dies übrigens gegenwärtig sehr gut auf globaler Ebene bei all den Fragen, die mit Global Governance zu tun haben.

Anarchie und Ordnung

Selbststeuerungen sind nur dann vorstellbar, wenn ein großzügiges Maß an Chaos und Anarchie als notwendiger Teil der Ordnung akzeptiert wird. Ordnung kann nicht im Sinne einer linearen tradierenden Fortschreibung in eine Hyperordnung hinein verlängert werden. Vielmehr müssen Elemente der Selbstorganisation, des Marktes, der Chaotik, der Variation und Kontingenz in die bisherigen Ordnungsstrukturen eingebracht werden. Erstaunlich ist, dass große Organisationen das bereits machen. Sie kommen von einer stark hierarchisch geprägten Struktur her und bauen nun sukzessive selbstorganisierende Momente ein. Sie dezentralisieren, betreiben Outsourcing und bilden verteilte Netzwerke, weil sich komplexe Strukturen nicht mehr zentral steuern lassen.

Was es also braucht, sind Symbolic Anarchists. Das Wortspiel geht auf Robert Reich, den damaligen Minister von Bill Clinton beziehungsweise auf sein Buch über den Wohlstand der Nationen zurück, in dem er den Begriff des Symbolic Analyst als paradigmatische Figur des Wissensarbeiters geprägt hat. Am Symbolic Analyst lässt sich der Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft gut zeigen, weil sich die Produkte verändern, die Menschen herstellen. Es werden primär Symbole produziert, die etwa durch einen Software-ingenieur, Designer oder Künstler kreiert und manipuliert werden. Der Symbolic Analyst ist die Schlüsselfigur der Wissensgesellschaft. Was an dieser Konstruktion von Reich fehlt, ist die Reflexion darauf, wie dies die Gesellschaft selbst verändert. Und da die Wissensgesellschaft sicherlich nicht mehr steuerbar ist wie einst die klassische Industriegesellschaft, müssen wir uns fragen, wie sich die Bedingungen der Steuerbarkeit von Gesellschaften verändern. Hierzu brauchen wir komplementär zum Symbolic Analyst den Symbolic Anarchist, also jemanden, der mit der Chaotik und Kontingenz der Symbole professionell umgeht.

Kunst ist hier ein interessanter Fall, weil wir Erfahrungen, die seit der Moderne gemacht wurden, nun gesamtgesellschaftlich nutzen können und sollten. Der Künstler als Symbolic Anarchist stellt einen Erfahrungskontext bereit, der die Erfahrung mit dem Umgang mit Kontingenz beziehungsweise mit der willentlichen Kreation von neuen Welten vorzeigt. Er nimmt vorweg, was heute in der Innovation, in der Wissenschaft, in der Produktentwicklung, in der Entwicklung von Finanzinstrumenten etc. gemacht werden muss.

Kontingenzforschung

In der Philosophiegeschichte wurde etwa bei Cusanus oder Spinoza immer auch die Möglichkeit einer positiven Konnotation von Kontingenz mitgedacht. Bei Luhmann hat Kontingenz gar keine Chance mehr, negativ gesehen zu werden. Sie ist einfach ein Modus des Umgangs mit Welt und der Erfahrung, dass andere Dinge auch möglich sind. Umso stärker wir in eine moderne Denkweise hineinkommen – d.h. Zukunft wird relevant, wir stellen um auf Projekte und Möglichkeiten –, in dem Maße wird Kontingenz zum Normalmodus des Betriebes von großen komplexen sozialen Systemen. Wir realisieren dies nur zum Teil nicht, aber Politik steuert u.a. Kontingenzen, indem sie Gesetze erlässt, die in die Zukunft weisen.

Kontingenzforschung wäre hier dringend notwendig und wird zum Teil auch praktiziert. Wir haben viele Ansätze für die Konstruktion von möglichen Welten, die von der so genannten Zukunftsforschung über die Prognose bis hin zu Szenariotechnologie reichen. Szenariotechnologien sind sehr hilfreich, um Vorstellungen zu entwickeln, was in Zukunft auf uns zukommen könnte. Das geht weit über Prognosen hinaus und stellt einen Umgang mit kontingenten Welten bereit, die dann als Bilder möglicher Welt auf unser gegenwärtiges Denken zurückwirken.

Ironie

Wenn täglich die Differenz zwischen realen und kontingenten, konstruierten, gedachten oder vorstellbaren Welten größer wird, wird es schwieriger zu entscheiden, was ist gut oder böse, brauchbar oder nicht brauchbar. In Phasen der Auflösung von Sicherheit, der Veränderung von grundlegenden Parametern und des Hineinstolperns in neue Gesellschaftsformen schwindet ein Common Sense im Sinne eines verbindlichen Vokabulariums. Jede Person benutzt ein idiosynkratisches Vokabularium, was Thema des Ironiebegriffs von Richard Rorty ist. Rorty macht dies zwar nicht deutlich, aber genau aus diesem Zusammenspiel der heterogenen Vokabularien, unterschiedlichen Welten und nicht zusammenpassenden Geschichten entsteht das Problem der Inkompatibilität. Die große Frage ist, nach welchen Mechanismen funktioniert die strukturelle Kopplung – ich nenne es inzwischen symbolische Kopplung – der jeweils unterschiedlichen Welten, subjektiven Sichten und individuellen Vokabularien.

Ironie setzt Erfahrung und Wissen im Umgang mit Alternativen und Möglichkeiten voraus. Sobald ich verstehe, dass viele Geschichten parallel möglich sind, es viele Geschichten gibt, von denen ich nichts weiß und sich in meinen eigenen Geschichten blinde Flecken verbergen, bin ich bei einer ironischen Form der Konfabulation. Diese Erfahrung hängt weniger von Bildung als von Erfahrungskontexten ab. Diese sind nicht mehr so stark gebunden an Schule und Universität, sondern an bestimmte Lebenswelten, die nicht ideologisch oder fundamentalistisch verengt sind.

Jean Paul sagt, Ironie ist das Wissen um das Nichtwissen bzw. Wissen im Nichtwissen. Das heißt, ich lasse mich nicht durch die Erfahrung depressiv machen, dass ich in den meisten Hinsichten nicht genügend weiß, mit jedem neuen Wissen neues Nichtwissen hergestellt wird und ich in den meisten Belangen kein Fachmann oder keine Fachfrau bin. Eine ironische Haltung zu den Turbulenzen und Verwirrungen der Welt verlangt eine reflektierte Einstellung zur Tatsache des Nichtwissens. Das gibt mir eine ironische Leichtigkeit und dadurch gewinne ich neue Sicherheiten im Erzählen von Geschichten. Trotz aller Schwierigkeiten erlaubt mir dies, eine Identität zu bilden und eine nachvollziehbare, viable Geschichte zu konstruieren – und dies sowohl für mich als Person wie auch im Verhältnis zu Sozialsystemen.

Wir müssen lernen, eine Distanz zu uns selbst einzunehmen, damit wir nicht fundamentalistisch regredieren. Ironie ist heute fundamental, um den Fundamentalismus zu bekämpfen. Ironie ist eine Überlebensfrage.

* Auszüge aus einem Gespräch zwischen Thomas Feuerstein und Helmut Willke, das im Juni 2004 stattfand. Erstabdruck in: Klaus Thoman (Hg.), Thomas Feuerstein. Outcast of the Universe, Wien 2006, S. 215 - 220.

Index