Gerhard Johann Lischka

Geschichten Geschichte

Mit der Menschwerdung und viele Jahrtausende später mit der Benennung des Menschen als Mensch, mit der Unterscheidung seiner Stellung zum Tier durch die Sprache und der Erinnerung an verstorbene Menschen, von denen man sich erzählte, beginnt die Geschichte, respektive das Bewusstsein vom Stirb und Werde. Über gewisse Personen, die sich speziell hervorgetan hatten und Begebenheiten, die von einschneidender Bedeutung für das Leben der Gemeinschaft waren, bildeten sich Geschichten, die sich zu Legenden, Märchen und Sagen verdichteten: Worte und Erzählungen wurden zu Mythen. Und Mythen wiederum waren und sind zum Teil immer noch ein fiktionales Korsett, eine Absicherung gemeinschaftlichen Seins und etablierter Rituale.

Magische Beschwörungen waren wahrscheinlich die ersten gemeinsam vollzogenen Rituale. Schamanen haben durch Anverwandlung in Tiere den Kontakt zur Geisterwelt hergestellt. Bindungen innerhalb und zwischen Stämmen wurden gefestigt oder aufgelöst. Jahreszeitliche Feste, Jagdvorbereitungen und später die Hoffnung auf gute Ernten waren die immer wiederkehrenden, meist an speziellen Orten stattfindenden Ereignisse. Und sowohl Geburt, Initiation als auch Hochzeit und Begräbnis waren und sind bis heute Haltepunkte in der kollektiven wie individuellen Geschichte. Die Biographie ist das Bewusstsein der eigenen Erlebniswelt und ihrer Veränderung.

Der monatliche Zyklus der Frau gehörte durch die Beobachtung des zunehmenden und abnehmenden Voll- und Neumondes vielleicht - wie überhaupt die Erscheinung der Himmelskörper - zur ersten Form des Zählens der Tage und Nächte, aus denen sich die Monate und Jahre ergaben. So sind Zahlen Momentaufnahmen der Dauer als Rhythmen der Zeit, der Takt in der Organisation des Tanzes so wie die Bezeichnung der Anzahl und Menge getauschter Waren. Zahlen sind das Rückgrat der Ordnung des Sprechens. Sollte dieses memoriert werden, ergaben sich daraus die kurzen und langen Betonungen, Stab- und Endreime der Epen. Sie sind die offiziellen, in Form gebrachten gesungenen und rezitierten Geschichten der Volksstämme und Ethnien. Untermalt und getragen von den entsprechend entwickelten Musikinstrumenten ist auch heute noch Musik und Gesang Ausdruck und Form gewordenes Gefühl der Vielzahl der Gesellschaften und ihrer diversen hieratischen Ordnungen.

Geschichten sind bis in die reduzierteste Form hinein in fast jedem Medium so etwas wie seine Quintessenz. Sie sind diejenige Information, die wir alle - spezifisch in der jeweiligen Sprache und Kultur, aber auch übersetzt global - verstehen. Wir teilen uns die Gespräche mit, schildern die Zusammenhänge, bekunden unsere Betroffenheit, unsere Zustimmung oder Ablehnung, werden durch sie in Handlungen verstrickt oder zu Überlegungen angeregt.

Auf jeden Fall scheint unsere Neugier immer wieder selbst von absolut Banalem geweckt zu werden. Unser Leben spielt sich in Erzählungen ab und wir erzählen auch unsere das Leben lang währende Geschichte. Was am Ende von uns übrig bleibt ist unsere Geschichte, wie sie von uns oder von den anderen erzählt wurde und wird. Hier manifestiert sich, was denn an der Geschichte eines Gestorbenen – der ja nicht mehr mit seiner Meinung über seine Geschichte korrigierend oder wertend eingreifen kann – wahr, übertrieben oder beschönigend ist.

Da die jeweilige Geschichte immer auf gewissen Handlungen, Vorkommnissen und Ereignissen beruht und jede/r Beteiligte sie von der eigenen Warte aus beobachtet hat, wird sie auch jede/r entsprechend different schildern. Womit bereits die direkt Beteiligten die Fakten mit verschiedenen Akzenten beurteilen. Der Strom der Erzählung, deren Gedanken und Gedenken fliessen aus der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft ausufernd, versickernd, irgendwo wiederum auftauchend oder ganz verschwindend.

So lange es die mündlich weitergegebenen Geschichten gab und gibt, sind die Erzähler und die Zuhörer ein geschlossener Kreis, gefangen von der Story und auf mannigfaltige Art direkt an ihr beteiligt. Ob es sich dann um eine Versammlung, eine Botschaft oder geselliges Zusammensein handelt, die Geschichte war und ist eine direkte Mitteilung und man versteht sie ohne irgendwelche Interpretation. Auf Fragen werden Antworten erfolgen und Reaktionen können unmittelbar stattfinden.

Direkte Beteiligung überhaupt zu erwähnen, scheint eigentlich unnötig zu sein. Doch hören wir auf den Schwall irgendwelcher und endloser Geschichten, die nur noch indirekt mit uns zu tun haben, uns betreffen, so wird es überdeutlich: Die Narration wird von der Conarration arg bedrängt. Die Geschichte der Geschichten, die eine zentrale Bedeutung für den gemeinschaftlichen Zusammenhalt hatten, wird in hohem Grad fragwürdig, wenn nicht obsolet. Die grosse Erzählung, wie wir sie aus den kanonischen Texten kennen, wird zwar von Fundamentalisten beschworen, ist aber von aufgeklärtem Denken so zersetzt worden, dass sich an ihrer Statt unzählige kleine Episoden und individuelle Ereignisse und Erfahrungen etablieren.

Die Hochkulturen, die sich um Helden- und Göttergeschichten ranken, konnten sich in schriftlicher Form bis zu fünf Jahrtausende halten. In Stein gemeisselt, auf Papyrus geschrieben, in Tempeln dargestellt auf Friesen, auf Mosaiken, Teppichen, in Bronze gegossen, auf Leinwand gemalt, in unzähligen Büchern usw. sind die klassischen Geschichten des Altertums festgehalten. Und mit der Fotografie, dem Kino, Radio, den Magazinen und im TV werden die Geschichten popularisiert, demokratisiert und schliesslich im Internet individualisiert.

Alle frühen Formen, die eine bewusste Gestaltung bedingen, sind bereits Zeichen für etwas. Sind es durchlöcherte Muscheln, kann man sie als Schmuck interpretieren. Sind es um ein Skelett in Kreisform arrangierte Lösskugeln, wird es eine Beerdigungsstätte sein. Mit dem Erscheinen der Kunst des homo sapiens sapiens ( Cro Magnon ) und seinen Malereien, Skulpturen und Reliefs werden Mensch, Tier und abstrakte Zeichen erkennbar, doch was sie bedeutet haben, können wir nicht sicher sagen. Es fehlt dazu einfach die Geschichte, deren Teil sie sind.

Ein Mühlebrett auf Stein diente zum Spiel. Die Venus von Willendorf trug man damals wahrscheinlich als Talisman in Händen und steckte sie in den Ocker des Zeltbodens. Geschmückte Speerschleudern gestatteten einen kräftigeren Wurf. Doch was bedeutet die Vielzahl der Tiere und ihre Konstellation an den Wänden und Decken der Höhlen? Wie ist die hohe Kunstfertigkeit zustande gekommen: durch zeichnen in Sand, schnitzen in Holz? Also was erzählt uns die Kunst bis zu den Grosskulturen, deren Schrift wir lesen können? Denn die paläolithische Kunst erzählt uns auch Geschichten. Weil wir jedoch keine Konnotationen, keinen Kontext kennen, bleibt die Geschichte verborgen. Man spricht eben von dieser Zeit als der Vorgeschichte; aber dennoch hat es Geschichten gegeben.

In der Zeit vor der Schrift oder besser gesagt vor der Möglichkeit der Interpretation von Zeichen durch Zuhilfenahme von Metazeichen, die eine Abstimmung der Aussage ermöglichen würden, in dieser Zeit hat man sicherlich gewusst, was mit welchen Zeichen wie ausgedrückt wurde. Wahrscheinlich wurden die Zeichen in Ritualen verwendet. Die Hände griffen Oberflächen ab, um Formen zu suchen, die dem Abgebildeten entsprachen. Die Malereien und Gravuren stellten einen Wissensschatz dar, der einer Bibliothek entsprach und zur Initiation etc. diente. Anhand von Geschichten wurden die Darstellungen lebendig, d.h. zu Bewusstsein gebracht, zu gesellschaftlicher Vermittlung.

Der Übergang von der vorgeschichtlichen Zeit zu derjenigen, die unseren Vorstellungen der Sprache, Schrift und Geschichten entspricht, war ein fliessender was Orte und Zeit betrifft. Nach heutigem Kenntnisstand war es der Nahe Osten, wo Jäger zum Teil sesshaft wurden, Haustiere gehalten haben und Nahrung geerntet wurde. Auf dem Göbekli Tepe (bauchiger Berg) entstand ein erster gewaltiger Tempelbezirk. Die Reliefs auf den T-förmigen Pfeilern stellen Bildergeschichten dar, aus denen sich bereits sinnvolle Interpretationen ableiten lassen. Noch weiter gehen die Erzählungen der Wandgemälde in den Häusern in Catal Höyük: Auf ihnen wurden Ereignisse festgehalten, die immer wieder überweisselt, für kurze Zeit sichtbare Geschichten waren.

Vor gut 5000 Jahren entwickelten sich in Mesopotamien und Ägypten fast gleichzeitig Schriftsysteme, die es gestatteten, Mythen festzuschreiben und geschäftliche Abwicklungen zu notieren. Zu den Bildergeschichten gibt es nun in Keilschrift und Hieroglyphen entsprechende Texte, die uns Auskunft über die Bedeutung des Dargestellten geben. Gleichermassen werden auch Texte illustriert, sodass eine Verquickung von Bild und Text zustande kommt, wie wir sie bis heute (mit dazu kommendem Ton) pflegen. Als Träger dienten u.a. Tontafeln, Papyrusrollen, Wachstafeln, später Pergament und Papier, die mit entsprechenden Griffeln, Pinseln, Federkielen und Lettern bearbeitet wurden.

In diesen Zeiten war die Niederschrift und das Lesen ein Privileg, das von Schreibern und Priestern gehegt, Geschäfte, Geschichten und vor allem die Doktrin (den Codex) der Herrschenden transportierte und bewahrte. So hielt sich z.B. in Ägypten mit den Tempeln, Pyramiden und Papyri das Pharaonentum mit den entsprechenden Priestern und ihren Gottheiten über 3000 Jahre. Die Formgebung ist dabei dermassen prägnant und ästhetisch ausgefeilt, dass sie auch auf uns ihre Wirkung nicht eingebüsst hat. Die Frage nach dem Jenseits des Todes hat alle Kulturen und die sie begleitenden religiösen Systeme mitbeherrscht. Einige wenige Textsammlungen wie die Bibel und der Koran erlangten einen gewaltigen Einfluss.

Diese Hochkulturen sind praktisch aus der Polarität von Religion und Staat gebildet, sie sind wie Leben und Tod miteinander vereint. Architektonisch signifikant ist dieses Doppel in Zikkurat, Tempel, Kirche, Moschee und Palast dargestellt. Literarisch und/oder bildhaft sind Himmel und Erde die sich bedingende, trennende und vereinende Kraft. Neben Mann und Frau, Liebe und Hass, Geld und Macht sind sie der immer wiederkehrende Inhalt aller Geschichten.

Das wichtigste Thema in den Erzählungen der Hochkulturen ist zum einen die Herrschaft, die von den Göttern oder Gott über die Welt ausgeübt wird und die Ehrerbietung, welche ihnen gegenüber stattfindet. Unter ihrem Schutz stehen weltliche Herrscher, oft Eroberer, die grosse Reiche gründen und deren Nachfolger meistens ihr Territorium gegen Widersacher verteidigen müssen. Das Volk der Bauern, Handwerker etc. waren die Untertanen, die nicht viel zu sagen hatten. Ebenso erging es den Frauen, deren Geschichte – mit wenigen Ausnahmen – eine untergeordnete Rolle spielte. Als Mütter waren sie erwähnenswert, auch ihrer Schönheit wegen.

Mit dem erstarkten Bürgertum, der Renaissance und der Entdeckung Amerikas, dem Beginn der Neuzeit, bleiben alte Strukturen zwar erhalten, mit der Entstehung des ersten wahren Massenmediums, dem Buchdruck, werden aber viele Veränderungen initiiert. In Bezug auf die Erzählung werden existierende Formen aufgefächert und ausdifferenziert. Neue, wissenschaftlich gestützte Sichtweisen setzen sich durch. Nicht mehr die Erde ist das Zentrum des Universums, der Mensch sieht sich als „universal“. Der christliche Glauben wird in der Reformation zu einer direkten Beziehung zwischen Individuum und Gott. Die Perspektive öffnet den Blick auf die ganze Welt, die wie durch ein Fenster, einen Raster oder gar anamorphotisch gesehen wird. Das Subjekt wird vom Objekt getrennt. Und schliesslich wird in der Aufklärung das Wissen in Enzyklopädien aufgelistet, jedem zugänglich akribisch abstrakt gefasst.

Hatte sich das Theater im alten Griechenland aus den Dionysien zu einem politischen Element der Demokratisierung entwickelt, wandelte es sich später zu religiösen Spielen und wurde im Shakespearischen Drama zu einer unglaublichen Ballung von Erzählungen, die paradigmatisch das „Drama“ des Lebens wiedergeben. Die Epik, weitergeführt in Abenteuer- und Entwicklungsromanen, und die Lyrik gelangten durch hohe Kunstfertigkeit zu grosser Blüte.

Drama, Lyrik und Erzählung sind einfach spezifische Formen der Geschichten, die mit der Weltumrundung, der Gründung von Nationalstaaten, Kolonien und der aufkommenden Industrialisierung neue Stoffe bekamen. Auch eine zunehmende Zahl an Begleitliteratur, an Zeitschriften, Lexika und wissenschaftlichen Texten etablierte sich. Als eine Metasprache zu einer ersten Beobachtersituation, konstituierte sich eine Beobachtung zweiter Ordnung, die sich auch mit derjenigen erster Ordnung verflechten kann, zu einem Intermedium.

Bildergeschichten, die als Fresken, Mosaiken etc. fest mit der Architektur verbunden waren, wurden im Tafelbild zu transportablen Objekten. Die Technik des Holzschnitts, der Radierung bis zur Lithographie gestatteten wie der Buchdruck eine grössere Streuung der Geschichten und bildnerischen Ideen. Mythen und religiöse Inhalte auf die sich die Künstler, Musiker und Schriftsteller bezogen, wurden durch alle das Leben betreffenden Themen erweitert. Diese Aufsplitterung führte zur Autonomie der Kunst, der von den Künstlern eigenwillig und individuell gestellten und gestalteten Thematik, die der Nexus der Moderne sind.

Die fortschreitende Spezialisierung nimmt den altbewährten Geschichten zwar die Vormachtstellung, aber ein gewisser Zusammenhalt durch als verbindlich akzeptierte und gepflegte Erzählungen bleibt auch in den sich bildenden Demokratien am Leben.

Gerade der Fortschrittsgedanke, der die Nabe des Rades der Beschleunigung des Lebensrhythmus der Moderne ist, sollte und muss auch das Verlässliche und Gemeinsame erhalten. Wenn durch die den Rhythmus beherrschenden Maschinen der Lärm und die Geschwindigkeit zunahm, musste auch die Zeit für Geschichten knapper werden. Respektive die Geschichten wurden verdichtet und in der Entfremdung, die mit der Fabrikarbeit einherging immer mehr vom Herd, aus der Familie und der Gemeinschaft in die Neuen Medien verpackt.

Aufzüge, Schiffe und die Eisenbahn werden mit Kohle angetrieben, Gas, Strom und Öl ermöglichen den Lauf der Motoren verschiedenster Art. Die Fotokamera und die maschinellen Ton- und Bildaufnahmen etablierten ein Universum der Apparate, welches sowohl Geschichten produzierte als auch in vollkommen neue Formen verpackte. Vor allem gestatteten diese Apparate jedem seine eigene Geschichte zu konservieren. Wurde auch die Seele noch als Apparat bezeichnet, so konnte man mit seinem Unbewussten konfrontiert werden.

Eine Fotografie erzählt eigentlich nur noch einen Moment, von einem raum-zeitlichen Ausschnitt. Die meisten dieser fixierten Kleinbilder benötigen auf jeden Fall einen Kommentar, damit eine eventuelle Geschichte sich ergab oder noch ergibt. Mit der filmischen Projektion wird das ältere Rundbild des Panoramas in ein zeitliches Nacheinander gebracht, das mit der Schnitttechnik zum adäquaten Ausdruck zeitlicher Raffung der Moderne wird. Zusammen mit der Psychoanalyse entstanden, werden Erzählstränge unterschiedlichster Art wie Träume zusammengefügt. Der Sinn der Geschichte wird oder ist zerhackt, weil man das Ganze nicht mehr verstehen kann. Oder weil Unverständliches als rätselhafter Ausdruck des Unbewussten die Logik von Bewusstem und nicht Bewusstem unterstreicht.

In der Kunst wird nur noch selten eine Erzählung konventioneller Art in einem Bild kristallisiert. Im Kunstwerk wird die einmal gefundene typische Form endlos variiert. In Abstraktion, Realismus und vielen anderen Ismen wird die eigene Weltsicht erforscht und vertreten. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte sich auch das Gespräch aus dem direkten Kontakt lösen; Stimme und Musik werden über den Radioapparat wiedergegeben. Das Telefon ermöglichte es, Gespräche über Kontinente hinweg zu führen, Nähe in der Ferne zu vernehmen. Der Volksempfänger wiederum und der totalitäre Umgang mit dem Radio versprachen dem vom Führer indoktrinierten Volk sogar den Endsieg.

Jedes Mittel (Medium) dient einem Zweck. Je nach dem wie weit oder eng man ein Medium als Begriff definiert, können es dann tatsächlich Steigbügel, eine Schreibmaschine oder eine Atombombe sein. Argumentiert man aber sehr abstrakt, eignet sich das Duo Medium und Form gut, um den Prozess der Generierung von Formen in Medien als Mediatisierung zu veranschaulichen.

Begreifen wir hier Geschichten als Mittel der Information, die eine mehr oder weniger wichtige Mitteilung ist und verstanden werden soll, gleicht dies dem Prozess zur Verarbeitung von Information im Gehirn. Wir nehmen etwas wahr, prüfen es auf seine Richtigkeit (Bedeutung für uns) und haben es begriffen. Die Speicherung der Geschichten wurde zunächst im Kopf vorgenommen, dann auf Zeichen als Bild, Schrift und Ton direkt übertragen, später in Form von Büchern, Fotos, Filmen und Radio mitgeteilt. Die Narration wurde auf Trägermedien speicher- und abrufbar.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat das Fernsehen als Dreiheit von Bild, Text und Ton in wenigen Jahrzehnten die hintersten Ecken der Welt erobert und wurde zu einem Mono-Medium, an welches fast alle Bewohner der Erde angeschlossen sind. Da ein Grossteil der Fernseh-Konsumenten ähnliche Nachrichten zu sehen bekommen, wurde diese zu einer täglich aufgefrischten Information. Ähnlich der potentiellen Verstrahlung der ganzen Welt durch das Atombomben Arsenal, verstrahlt das Fernsehen unsere Köpfe mit seinen staatlichen und privaten Programmen, sodass sich unser Verständnis von Realität zu Gunsten derjenigen der Apparatewelt verschoben hat.

Dank der immer raffinierteren Anwendung der Computertechnologie, die sich parallel zum Fernsehen entwickelte, hat sich bis zur Jahrtausendwende auch die Digitalisierung dermassen verbreitet, dass mittlerweile fast alles der Herrschaft des Computers unterworfen wurde. Die Realität mischt sich dadurch mit der von Bits gestützten Reality. Und ist, was in der Realität geschieht, körperlich nahe, sind die Vorgänge in der Reality fern (irgendwo), okkupieren aber unseren Geist, der nahe und fern ist.

Durch die Allgegenwart der Reality hat sich diese mit ihren Stories so sehr in den Vordergrund geschoben, dass unsere eigenen Erlebnisse, ihnen angepasst, imitiert werden und den massenmedialen Klischees allzu oft Folge leisten. Weil die Filme auch Handlungsmuster vorführen und entsprechende Geschichten clever verpacken, werden diese nacherzählt und besprochen. So gesellt sich zur „primären“ Narration die Nacherzählung als Conarration. Hatten die alten Geschichten einen Kern, der (wahrscheinlich) Tatsachen entsprach, sind die mit dem Kino und dem Fernsehen aufkommenden Geschichten mentale Konstrukte, die auf Drehbüchern basieren. Mag der Unterschied zwischen Narration und Conarration auch gering erscheinen, sie sind medial getrennt.

Um diese Trennung zu verwischen, sind im Laufe der Zeit immer mehr Mitspiel- und Publikumssendungen ins Programm aufgenommen worden, bis in Big Brother Fernsehen zum Überwachungs-Fernsehen wurde. Und die Masche heisst: Wer im Fernsehen auftritt, ist wer! Die Scheinwelt als Garant für ein bestätigtes Selbstbewusstsein, für Wahrheit und Qualität.

In der Mediatisierung bleibt nichts stehen und im Kapitalismus reicht der Fluss des Kapitals weit in die Zukunft (Futures) hinein. So hat auch der Fernseh-Riesenvogel auf seinem Höhenflug Federn lassen müssen. Denn trotz aller Bemühungen Publikumsnähe und Einschaltquoten bleibt TV ein klar auf Sendung und Empfang getrenntes Massenmedium. Zwar hat das auf Konsens getrimmte Programm und die Ausrichtung auf einige wenige Prominente (VIPs), die sich die Ehre geben, noch genügend Zuschauer vor den Bildschirmen. Doch die Alternative Internet ist gesetzt: Austausch, Blogs, Diskussionsforen, Second Life, Versteigerungen… Was wird sich da nicht noch alles entfalten?

Und wer von den Medienbetreibern klug ist, bereitet sich auf eine Vielfalt der Geschichten-Erzählungen vor. Für wen schlägt wann die Gunst der Stunde? Unübersehbar ist, dass sich der Umgang mit den Medien in den verschiedenen Altersgruppen bereits stark verändert hat. Sie verfolgen unterschiedliche Geschichten. Diese waren schon in der Moderne durch Medien distribuiert. In der Conarration waren die Erzählungen bereits durch die Manipulation von Film und Fernsehen gefiltert. Doch im Internet und mit dem Handy wird die eigene Geschichte geradezu auf penetrante Weise präsentiert und durch Masken verstellt. War und ist im Fernsehen die Aufmerksamkeit doch auf die Sozietät gerichtet, treibt im Internet jede/r ihr/sein Spiel und hofft auf viele Klicks. Ein massenmedialer Aufstand der Individuen als total Vereinzelte in der Vernetzung.

Diese rund um die Uhr agierten Selbstdarstellungen sind in ihrer Fülle eigentlich keine Bilder mehr, sondern Alltäglichkeiten, keine Form sondern Medium, keine Konstruktion sondern bildhafter Abklatsch. Auch benötigte man Kommentare zu den Bildern wie für das Verständnis der Vorgeschichte. Meist noch banaler als die meisten Fernsehsendungen, dient hier das Interface/der Monitor als Medium des Mediums. Aber immerhin fühlt man sich online nicht verlassen, da man ja zugegen ist. Und ein Leben ohne E-Mails, schnellen Zugriff auf Information, breit gefächerten Austausch, kann man sich nicht mehr vorstellen. Wenn auch nicht jede individuell rapportierte Geschichte in der Masse aller Geschichten…

Hier stehen wir am Beginn einer neuen Zeit, die wie jede vorhergehende ihre Geschichten erzählt. Wir können sie noch nicht beurteilen, weil wir mittendrin in unser aller Geschichten stecken und die Lust auf Geschichten Geschichte sind. Sie ist eine wie auch immer geartete Kraft und erfüllt doch oft die schöne Floskel „se non è vero è ben trovato“. Geschichten beziehen sich immer auf Geschichten. Sie ergeben eine unendliche Filation: auf dem Dreiklang Geschichte, Narration und Conarration kann man ihre Überlagerung als Verknotung begreifen und geniessen.

Index